Susan Ferenz Schwartz
Psychiaterin, Fluntermerin, WeltbürgerinSie lebt in einer geschmackvoll eingerichteten Alterswohnung in Fluntern. Viele Bilder an den Wänden, überall Bücher und ganze Regale mit CDs klassischer Musik. Es geht ihr gut, sie fühlt sich wohl, lediglich die Kücheneinrichtung entspricht nicht ganz den Anforderungen der passionierten Köchin. Dass sich unter ihrer Wohnung eine Kita befindet, stört sie dagegen gar nicht. Sie mag Kinder: Die Psychiaterin Dr. Susan Ferenz Schwartz. Seit Jahrzehnten lebt und arbeitet Susan Ferenz Schwartz in Fluntern, aber ist ihr das Quartier auch Heimat?
Frühjahr 1933. Der Neuro-Pathologe Philipp Schwartz, Professor an der Frankfurter Universität besucht mit seinem Sohn den Zoo. Plötzlich wird er von einem Freund angesprochen: «Du wirst dringend in Zürich erwartet.» Der weiss davon gar nichts. Aber der Freund bleibt hartnäckig: «Reise nach Zürich, sofort.» Jetzt begreift Philipp Schwartz, geht mit seinem Sohn zum Bahnhof und fährt nach Zürich. Zurück bleiben seine Frau und seine Tochter Susan. Kurze Zeit später steht die Gestapo vor ihrer Frankfurter Wohnung. Wenig später folgt auch der Rest der Familie dem Vater in die Schweiz. Susan Ferenz Schwartz präzisiert: «Nur Ehefrau und Tochter. Der Rest der Familie Schwartz ist in Auschwitz gestorben.»
Die Familie Schwartz hat Glück. In Zürich leben die Grosseltern, der Biologe Prof. Sinai Tschulok und seine Frau Dr. Rachel Weinstein, eine der ersten Schweizer Ärztinnen. Für Susan Schwartz wird es ein kurzer Aufenthalt im Hause der Grosseltern an der Plattenstrasse in Fluntern. Denn ihr Vater hat inzwischen vom türkischen Präsidenten Kemal Atatürk den Auftrag erhalten, gemeinsam mit dem Genfer Pädagogen Malche das türkische Universitätswesen zu reformieren, auf europäischen Standard zu bringen. Dafür braucht es profilierte Professoren. Philipp Schwartz kennt sie: Die aus rassischen und politischen Gründen verfolgten Wissenschaftler in Nazideutschland. Er gründet die «Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland». Heute weiss man, dass durch sie über 2000 Menschen das Leben gerettet wurde. «Eine Aktion von welthistorischer Bedeutung» nannte sie Brigitte Hürlimann in der NZZ.
Auf dem Schoss von Lenin
Die Jahre in Istanbul wurden «zu grossen Teilen» ein schöne Zeit für Susan Schwartz. «Wir haben in einem riesigen Park gewohnt mit direktem Zugang zum Bosporus, sassen im Garten, lasen, spielten und holten uns Maulbeeren, Pfirsiche oder Reigen direkt von den Bäumen.» Und dazu die vielen Besuche von Freunden und Kollegen des Vaters: «Es ging bei uns unglaublich weltoffen zu.» Auch Präsident Kemal Atatürk besuchte die Familie Schwartz. Auf seinem Schoss sass die kleine Susan. Als Susan Ferenz Schwartz heute diese Episode erzählt, muss sie plötzlich lachen. Denn sie erinnert sich an ihre Mutter. Deren Eltern kamen einst aus dem Zarenreich in die Schweiz. Und ihnen wurden vor der Abreise eingeschärft: «Lasst euch in Zürich ja nicht mit Russen ein. Das sind alles Revolutionäre.» Wenig später wurde die Wohnung von Rachel Weinstein und Sinai Tschulok zum Treffpunkt russischer Emigranten und die Mutter von Susan Schwartz sass als Kind auf dem Schoss von Lenin.
Es geht der Familie Schwartz gut in der Türkei. Man fühlt sich wohl. Und doch ist da immer ein Unbehagen, bleibt so etwas wie Angst: «Wir sassen an einem herrlichen Sommerabend auf der Terrasse und plötzlich sagte mein Vater: ‚Wer weiss, wie lange es noch geht.‘ Man wusste ja nie, ob der Hitler auch noch die Schweiz und die Türkei besetzt.» Dieses Angstgefühl war durchaus berechtigt. Nach dem 2. Weltkrieg wurde in der deutschen Botschaft die Liste derer gefunden, die beim «Anschluss» der Türkei sofort zu verhaften gewesen wären. An vorderer Stelle stand Prof. Philipp Schwartz.
Zudem änderte sich nach dem Tode von Kemal Atatürk das politische Klima in der Türkei. Der neue Präsident Ismet Inönü setzte wieder auf traditionelle Werte. Auch deshalb beschloss die Familie Schwartz, die Tochter Susan zum Medizinstudium in die Schweiz zu schicken.
Die hatte gerade ihre Maturaprüfungen bestanden. An der «English High School» in Istanbul. «Gelernt habe ich dort gar nichts. Da wurden die Mädchen zu künftigen Ehefrauen von Diplomaten und anderen hochrangigen Herrschaften erzogen.», bemerkt Susan Ferenz Schwartz trocken.
Nun also die Schweiz. «In der Familie war die Schweiz die Grosseltern und ‹Frigor›. Für mich war es überhaupt nur ‹Frigor›. Als man mich fragte, ob ich in die Schweiz wolle, habe ich gesagt: ‹Frigor ist gut.›»
Vom Bosporus in die Alpen
Ein Kulturwandel? «Das kann man sagen. Es war so kalt.» Und Susan Ferenz Schwartz meint damit nicht nur die klimatischen Verhältnisse. Sie erinnert sich an ihre Studienzeit: « Wenn ein Kommilitone eine Vorlesung versäumt hatte, war es für mich selbstverständlich, für ihn mitzuschreiben. Aber als ich ihm dann das Skript nach Hause brachte, reagierten die erschrocken, dass ich vielleicht auch zum Mittagessen bleiben wolle…» In ihrer Familie war Susan Schwartz anderes gewohnt. Als Kind begleitete sie ihren Vater einige Male an die türkisch-bulgarische Grenze, um Flüchtlinge, die zwischen der bulgarischen und der türkischen Grenze hin und her geschoben wurden, nach Istanbul zu holen. «Die haben wir dann zu uns eingeladen, als unsere Ehrengäste.»
In Zürich war alles anders. Susan Schwartz rief ihren Vater in Istanbul an an: «Papi, ich halte es hier nicht aus.» «Bleib jetzt mal drei Monate, dann sehen wir weiter», war dessen Antwort.
Aus den drei Monaten werden über 60 Jahre. Susan Schwartz schloss ihr Medizinstudium ab, promovierte, arbeitete als Psychiaterin im Burghölzli, lernte ihren Mann kennen, den Bariton Willy Ferenz, begleitete ihn auf seinen Gastspielreisen durch die ganze Welt. Als die Tochter Michele auf die Welt kommt, konzentriert sich Susan Ferenz Schwartz auf ihre psychiatrisch-psychologische Tätigkeit in Zürich. Sie hat inzwischen eine eigene Praxis. An der Toblerstrasse in Fluntern. Eine sehr erfolgreiche: «Bevor ich meine Praxis überhaupt eröffnet hatte, war ich schon für anderthalb Jahre ausgebucht.»
Zürich wird zum Lebensmittelpunkt für Susan Ferenz Schwartz. Aber auch Heimat? «Es hat eine Zeit gegeben, wo ich mir unglaublich viel Mühe gegeben habe, ganz «schwyzerisch» zu werden.» Susan Ferenz Schwartz wechselt ins Züritüütsche. «Aber irgendwie habe ich von der Umgebung gespürt: du gehörst nicht ganz dazu.» Nach dem Tode des Vaters hatte Susan Ferenz Schwartz ihre Mutter zu sich nach Zürich geholt. «Ich habe sie verwöhnt, versucht, ihr ein Zuhause zu geben. Ihr fiel es leichter, hier heimisch zu werden. Denn sie ist ja in Zürich aufgewachsen, ist hier ins Schulhaus Fluntern gegangen. Mich hat sie manchmal getadelt, ich sei zu kritisch mit den Schweizern.»
Ehre dem Vater
Es hat Susan Ferenz Schwartz sehr gefreut, als die Stadt Zürich ihren Vater mit einem Ehrengrab auf dem Friedhof Fluntern würdigte. Wenn sie allerdings am Hause ihrer Grosseltern in der Plattenstrasse vorbeigeht, da wo Philipp Schwartz 1933 die «Notgemeinschaft» gründete und dort die Ehrentafel für den Chirurgen Billroth, einen bekennenden Antisemiten, sehen muss, dann empfindet Susan Ferenz Schwartz nur eines: Wut.
Familientraditionen
Drei Bereiche sind Susan Ferenz Schwartz wichtig für ihr Leben: Soziales Engagement, Kinder und die Musik. Und manchmal spielt der Zufall Regie: Auf einem der internationalen Flughäfen traf sie den befreundeten Placido Domingo. Der fragte Susan Ferenz Schwartz, ob die nicht bei seinem Kinderhilfswerk mitarbeiten wolle. Erst zögerte sie, weil beruflich und familiär bereits voll ausgelastet, doch dann ging ihr durch den Kopf, dass bei einer solchen Aufgabe genau die für sie wesentlichen Bereiche miteinander zu verknüpfen wären. Das Resultat jenes Treffens mit Domingo war eine 18-jährige Tätigkeit für sein Hilfswerk «Children’s Bright Horizons» in der Schweiz.
Das Telefon klingelt. Es ist ihre Tochter Michele. Jeden Tag telefonieren Mutter und Tochter miteinander. Michele lebt mit ihrer Familie in New York, wo sie für die UNICEF arbeitet…
Martin Kreutzberg