Ruth Lewinsky

Grafikerin, Therapeutin, Dichterin

Menschen, zu ihrem Leben befragt, erzählen dies oft anhand von Anekdoten oder Erfolgen. Ruth Lewinsky nicht. Und trotzdem hört man ihr zu. Sehr gerne. Fasziniert von einer Sichtweise auf das Leben, die sich darin äussert, dass sie von ihrer 96 jährigen Mutter sagen kann: «Auch bei ihr ist noch alles möglich.»


Aufgewachsen ist Ruth Halpern in Zürich, besuchte, was zu dieser Zeit noch eher aussergewöhnlich war, die Rudolf Steiner Schule an der Plattenstrasse. Jetzt lebt sie wieder ganz in der Nähe. «Es kreist so und heute stehe ich wieder dort, wo ich meine ersten Ausbildungsschritte gemacht habe. Aber nur örtlich. Dazwischen liegt ein Leben. Das schaue ich mit anderen Augen an und das finde ich spannend.»

Scho zum erschtä Tag
wird ois d Schueltüüte ggä
s isch ales det drin
bis zum letschtä Schnuuf

Ruth und Charles
20 Jahre ist die Grafikstudentin Ruth Halpern alt, Charles Lewinsky 19, als beide ein Paar werden. Er beginnt gerade seine Laufbahn am Theater in Luzern. Als Praktikant, so würde man das heute nennen. Treffender ist der überholte Ausdruck «Mädchen für alles».
Ruth Halpern folgt ihm auf seiner Tour durch die deutsche Theaterlandschaft. «Ich habe mich nie gefragt, was das soll. Ich war überall einfach dabei.» In Ingolstadt oder in München. Bei ihren eigenen Arbeiten für das Theater interessiert sie das Entwerfen von Kostümen: «Da konnte ich mich schön frei zeichnen.»

Versuche
«Kinder zeichnen wunderbar, ganz einfach und spontan, schöpfen aus dem Vollen. Später werden sie irgendwo hineingedrillt, zeichnen so wie alle. Aber zu bewahren ist dieser kindlich-kreative Zustand nicht. Picasso wollte gegen Ende seines Lebens wieder so zeichnen wie die kleinen Kinder und hat traurig festgestellt, dass es nicht geht. Der Blickwinkel ändert sich und man soll ja weiter, weiter…»
«Versuche», nennt Ruth Lewinsky heute ihre Arbeiten für das Theater, «nicht der Rede wert.» Das wären sie durchaus. Denn es sind kleine Kunstwerke, die damals entstehen, äusserst anregend für die Regiearbeit.

Heute hier und morgen dort
Charles Lewinsky hat inzwischen ein Engagement als Assistent des Regisseurs Fritz Kortner an den Münchner Kammerspielen. Die Zusammenarbeit soll in Berlin fortgesetzt werden. Wieder eine neue Stadt. Da stirbt Fritz Kortner. Aber sie sind schon in Berlin und müssen sich irgendwie durchschlagen.
Sie arbeiten gemeinsam für die Theatergemeinde. Er textet die Monatsprogramme, sie übernimmt die Gestaltung. Viel zu verdienen ist damit nicht, aber einen grossen Vorteil gibt es: Freier Eintritt in alle Theater.
Auf Berlin folgt ein Engagement zu Peter Löffler an das Theater in Kassel. Und so hätte es weiter gehen können bei der Familie Lewinsky: von Stadt zu Stadt, heute hier, morgen dort im, so Ruth Lewinsky, «Mikrokosmos Theater.»
Dass so ein Lebensweg neben allen Anregungen und Erfahrungen auch Defizite mit sich bringen kann, spürte Ruth Lewinsky, als ihr Sohn Micha seine ersten Worte auf Hochdeutsch herausbrachte. Als Charles Lewinsky dann eine Anstellung beim Schweizer Fernsehen angeboten wird, endet die lange Reise, die in Zürich begonnen hatte, wieder in der Heimatstadt.
1975 wird die Tochter Tamar geboren. Was folgte war ein Leben in klassischer Rollenverteilung: Der Beruf dem Mann, die Familie der Frau.

Aufwachen
«Das Stück Aufwachen», wie es Ruth Lewinsky nennt, «kam erst viel später.» Die Kinder wurden selbstständig und sie fragte sich: «Vielleicht gibt es da etwas, wo ich selbst auch mit eigenen Beinen auf dem Boden stehen kann.»
Ruth Lewinsky lässt sich zur Cranio-Sacral Therapeutin ausbilden. Die «Cranio-Sacral Therapie» ist eine Methode der Alternativmedizin. Mit «looking fingers» folgt die Therapeutin den von ihr gefühlten Gewebespannungen, um sie zu reduzieren. Es braucht ein intensives Studium, um das zu erlernen. Vier Jahre dauert es. Seitdem arbeitet Ruth Lewinsky in ihrer eigenen Praxis. «Manchmal reichen ein oder zwei Behandlungen und es kommt wieder ins Lot. Es gibt aber häufig auch Menschen, die regelmässig zu mir kommen. Einfach weil es ihnen gut tut. Wenn ich aber merke, dass ich nicht helfen kann, dann schicke ich meine Patienten weiter.» « Ja» und das betont Ruth Lewinsky sehr nachdrücklich, « diese kritische Distanz muss man lernen.»

Hätte ich doch nicht lesen gelernt
Gedichte schrieb Ruth Lewinsky seit vielen Jahren. Zunächst nur für sich. Manche Schriftsteller haben die Auffassung, nur das, was publiziert ist, existiert. «Für mich ist das nicht primär. Ich hatte sogar Mühe beim Lesen», erinnert sich Ruth Lewinsky, «und Gedichte gelesen hätte ich schon gar nicht.» Wo andere Schriftsteller/innen sich an Vorbildern orientieren, hindert das Ruth Lewinsky eher bei ihrer eigenen Arbeit. Ihre Reaktion dann mitunter: «Oh je, das hat die ja schon geschrieben. Ich sage immer: Hätte ich doch nicht lesen gelernt.»
Trotzdem: Ruth Lewinsky blieb beim Schreiben. Heute sagt sie: « Durch das Schreiben habe ich mich selbst kenngelernt.»

Ruth und Ursula
Für eine Veröffentlichung ihrer Gedichte brauchte es dann einen besonderen Anlass, einen «Stups» wie es Ruth Lewinsky nennt, und eine originelle Idee.
Ursula Hohler und Ruth Lewinsky, beide mit prominenten Schriftstellern verheiratet, sind Freundinnen. »Wir beschlossen», so Ursula Hohler in einem Interview, «uns gegenseitig herauszufordern. Jede würde der anderen zu jedem Monatsanfang ein Gedicht schicken.» Als ein «Kinderseele-Spiel» beschrieb Ruth Lewinsky ihr gemeinsames Projekt. Das Resultat ist der Gedichtband «Poetische Seufzer – Aus dem Tal der Füchsin». Knappe, lakonische, nachdenklich stimmende Beobachtungen aus dem Alltagsleben – Momentaufnahmen. In zwei verschiedenen Richtungen gedruckt nannten es die zwei Frauen ein «Wendebuch».
Schon für die Veröffentlichung ihrer Gedichte musste Ruth Lewinsky «über ihren Schatten springen». Mehr noch für die folgenden Lesungen: «Zuerst habe ich Blut geschwitzt. Doch dann ging es gut, sehr gut. Aber auch wenn alles danebengegangen wäre, es war nötig, es macht Sinn.»

Schnell
schreib es auf
solang deine Hände
noch warm sind

Über fünfzig Jahre leben Ruth und Charles Lewinsky zusammen: Der Schriftsteller und die Grafikerin. Erstaunlich, dass Ruth Lewinsky nur eine gemeinsame Arbeit erwähnt: «Kohnversation – Zeichnungen Ruth Lewinsky, Texte Charles Lewinsky» – intelligente, witzige Cartoons über jüdisches Leben. Erschienen im Eigenverlag in einer Auflage von 100 Exemplaren. Schade, sehr schade. Aber: «Es ist immer noch alles möglich im Leben».

Martin Kreutzberg