Nils Melzer
Jurist, Wissenschaftler, IKRK Delegierter, UN-Sonderberichterstatter über Folter.Noch keine 50 Jahre alt ist Nils Melzer. Und doch hat er schon so viel von der Welt gesehen, wie andere zusammen in ihrem ganzen Leben nicht. 2010 kam er nach Fluntern, den Ort seiner Kindheit, zurück. Mit guten Erinnerungen: An den legendären Bäcker Haas, den Spielplatz unterhalb der grossen Kirche, wo er als Kind auf dem Rücken liegend das langsame Bewegen der Zeiger an der Turmuhr beobachten konnte. «Damals war alles so gross und nun ist es so klein geworden. Dabei steht der Brunnen immer noch dort, wo er früher schon stand.»
Ich mache gern Ordnung im Chaos
Aufgewachsen ist Nils Melzer an der Hoch- und an der Bergstrasse. Es folgten das Schulhaus Illgen, die Matura am Realgymnasium Rämibühl, das Jurastudium an der Uni Zürich und die weitere Ausbildung am Bezirksgericht Meilen. Bis hier ein ganz normaler, ein durchschnittlicher Lebensweg. Doch irgendwie spürte Nils Melzer, dass das nicht das war, was er eigentlich wollte. Die Juristerei in der Schweiz reizte Nils Melzer nicht sonderlich, liess ihn irgendwie unbefriedigt. «Es geht darum, die bestehende Rechtsordnung anzuwenden, vielleicht etwas aufzupolieren. Im Prinzip jedoch steht die Sache. Ich dagegen mache gern Ordnung im Chaos, aber dafür muss ja erst einmal Chaos da sein.» In der Schweiz also eher nicht.
Zwischen den Fronten
Der Jurist bewarb sich 1999 beim Internationalen Roten Kreuz (IKRK) als «Delegierter», so der offizielle Titel.
Das 1863 gegründete IKRK mit Sitz in Genf ist weltweit aktiv. Seine Aufgabe ist die Einhaltung der Genfer Konventionen zum Schutze von Kriegsopfern zu überwachen, die Vermittlung zwischen Kriegsparteien und der humanitäre Einsatz. So durch den Besuch bei und den Austausch von Kriegsgefangenen, den Schutz der Zivilbevölkerung, die Versorgung mit Nahrungsmitteln oder die Pflege von Verwundeten.
Viele junge Menschen streben eine solche Tätigkeit an, nur einer von vierzig Bewerber/innen übersteht das rigorose Auswahlverfahren und von denen scheiden die Meisten nach ihrer ersten Einsatzzeit wieder aus.
Nils Melzer blieb zwölf Jahre dabei. Zuerst als Delegierter vor Ort und später als Rechtsberater von Genf aus. Seine Einsatzorte markieren die Krisenherde der Welt in den letzten Jahren: Es geht um Regionen wie den Balkan, Afghanistan, den Nahen Osten oder Kolumbien.
Bereits in seinem ersten Einsatzgebiet in Mazedonien wurde Nils Melzer mit dem schrecklichen Chaos eines Bürgerkrieges konfrontiert. Im Frühjahr 1999 kamen in Mazedonien täglich ganze Flüchtlingszüge in die vom IKRK betreuten Camps. «Die haben wir in Empfang genommen, Interviews mit den Flüchtlingen gemacht, um zu ermitteln, was passiert ist, ob es Menschenrechtsverletzungen gegeben hat.» Noch heute erinnert sich Nils Melzer an die vielen Kinder, die auf der Flucht Transporten ihre Eltern verloren hatten: «Wir brachten sie in einen sicheren Teil der Camps und versuchten dann, ihre Eltern wieder zu finden.»
Am stärksten bei seinen Einsätzen haben Nils Melzer die Familienzusammenführungen «durchgeschüttelt». Einmal war es seine Aufgabe, Kriegsgefangene über die Frontlinie hinweg zu ihren Familien zurückzubringen. «Da fährt man mit zehn oder zwölf Gefangenen bis zum letzten Checkpoint der Armee, dann Stacheldraht, links und rechts Minen, dahinter sieht man bereits den Checkpoint der Gegenseite. Dazwischen das Niemandsland. Und dann heisst es warten. Vier Stunden oder länger. Bei beissender Kälte genauso wie bei unerträglicher Hitze. Die Grenzsoldaten waren oft selber aus ihrer Heimat vertrieben worden, hatten möglicherweise sogar Familienangehörige verloren, und betrachteten die Gefangenen, die wir hinüberbrachten, mit feindlichem Misstrauen und Verbitterung. Das kann dann zu explosiven Situationen führen, die schnell sehr gefährlich werden können…» Es folgen nervenaufreibende Verhandlungen, während auf der anderen Seite hinter den Absperrungen die Familien der Gefangenen warten. «Und wenn man dann schliesslich doch durchkommt, stürmen plötzlich an den Soldaten vorbei die Kinder ins Niemandsland. Da versinkt man schlicht in einem Meer von Gefühlen und weint einfach…» Die grosse seelische Belastung ist sicher auch ein Grund dafür, dass viele der IKRK Delegierten nach ihrem ersten Einsatz wieder aussteigen. Nils Melzer blieb dabei.
Wir kommen, um Pflästerchen aufzulegen
Theoretisch sind die Einflussmöglichkeiten des IKRK gross, praktisch reduzieren sie sich auf zwei: Den Druck durch die Öffentlichkeit und das Prinzip der Gegenseitigkeit.
Nils Melzer nennt ein Beispiel: «Wenn wir in einem Kontext etwa den Eindruck bekommen, dass Gefangene gezielt vor unseren Delegierten versteckt werden, können wir versuchen, durch Hinweise von Mitgefangenen oder Familienmitgliedern weitere Informationen zu sammeln. Sobald Wenn wir dann genügend Indizien haben, um unseren Verdacht zu erhärten, intervenieren wir bei den Behörden und verlangen Zugang zu diesen Gefangenen. Wird das abgelehnt, ziehen wir die Angelegenheit wenn nötig bis zum Staatschef weiter – jedoch konsequent immer auf vertraulicher, bilateraler Basis. Nur in Extremfällen, wenn alle unsere Interventionen erfolglos bleiben, ziehen wir uns zurück und informieren die Öffentlichkeit, dass wir wegen mangelnder Kooperation der betreffenden Kriegspartei unsere Arbeit nicht mehr völkerrechtskonform ausüben können», beschreibt Nils Melzer die mühsame Kleinarbeit eines Delegierten des IKRK. Einmal gelang es ihm so, einen Gefangenen nach 13 Jahren Isolationshaft wieder mit seiner Familie zusammenzuführen, welche ihn schon seit Jahren tot und verschollen wähnte. «Das war, als hätte ich einen Toten zurück in sein Leben begleiten dürfen.» Das zweite Mittel, die Gegenseitigkeit, wird immer schwieriger anwendbar. Das Problem besteht darin, dass die meisten Konflikte asymmetrisch geworden sind. Selten stehen Staaten gegen Staaten, sondern immer mehr im Geheimen operierende bewaffnete Gruppen, die kein Territorium kontrollieren, Staaten gegenüber. Während die Staaten dem IKRK in der Regel den Zugang zu Kriegsgefangenen erlauben, verweigern nichtstaatliche bewaffnete Gruppen immer häufiger das Gegenrecht, denn: «Heute ist es für viele Staaten eine Leichtes, uns mit Satelliten zu überwachen, und dann wissen die Behörden, wo die Gegenseite ihre Gefangenen versteckt. Es ist deshalb sehr schwierig geworden, überhaupt Zugang zu ihnen zu finden».
Trotzdem gibt es für das IKRK immer wieder Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Als Beispiel nennt Nils Melzer Afghanistan. Dort ist das IKRK seit über 30 Jahren im Einsatz. «Auch die Taliban profitieren von unserer Präsenz. Sie selbst haben beispielsweise keine Spitäler. In unsere Rotkreuzspitäler können sie auch ihre eigenen Verwundeten schicken. Und mit der Regierung habe wir eine Vereinbarung, dass sie diese humanitäre Hilfe akzeptiert.» Alles natürlich informell, aber beide Seiten halten sich daran. Diese, unausgesprochene, Gegenseitigkeit gibt dem IKRK überhaupt erst die Möglichkeit, in diesem extremen Krisengebiet zu operieren.
Natürlich legt das die Frage nahe, ob durch so eine indirekte Hilfe für Rebellengruppen, wie etwa die Taliban in Afghanistan oder die FARC in Kolumbien, nicht auch die Gefahr steigt, dass die Arbeit des IKRK missbraucht wird.
Die Antwort darauf von Nils Melzer kommt schnell, und sie ist eindeutig: «Alles in dieser Welt wird von irgendjemandem missbraucht. Zum Beispiel wenn Staaten vorsätzlich ein Gefängnis nicht heizen, sondern das Öl lieber dem Militär geben, weil sie wissen, das IKRK heizt dann schon. Man muss sich dessen bewusst sein. Aber es ist unabdingbar.»
Die Tätigkeit als Delegierter des IKRK verlangt neben viel Engagement auch eine gehörige Portion Realismus.
«Es ist ein Beruf. Wie der des Notfallarztes. Auch der kann die Wunden nur pflegen. Es ist in unserem Beruf ganz wichtig zu wissen, welche Rolle man hat. Man kommt, um Pflästerchen aufzulegen.» Andererseits, und das beschreibt die emotionale Spannweite der Arbeit eines IKRK Delegierten, «ist es schon sehr eindrücklich, wenn man ein sechsjähriges Kind findet und es wieder den Eltern zurückgeben kann.»
Nach seinen Einsätzen als Delegierter arbeitete Nils Melzer als Rechtsberater des IKRK in Genf. 2006 promovierte an der Uni Zürich mit dem Thema «Gezielte Tötungen». Später leitete er die Forschung am «Kompetenzzentrum Menschenrechte» an der Uni Zürich und schloss seine Habilitation ab. Nils Melzer lehrt an der University of Glasgow «Humanitäres Völkerrecht. Im November 2016 wurde er zum «UN-Sonderberichterstatter über Folter» berufen.
Der Angriff auf Assange bedroht die Pressefreiheit im Kern
Im Mai 2019 besuchte Melzer mit einem Ärzteteam den Whistleblower Julian Assange, dem die Auslieferung in die USA droht, im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London. Seinen Artikel «Entlarvung der Folter Julian Assanges» allerdings wollte zunächst niemand veröffentlichen. Im Januar 2020 gab Melzer dann dem Online Magazin «Republik» in Zürich ein umfangreiches Interview zum Fall Assange. Mit enormer Wirkung: So gut wie alle europäischen Medien berichteten darüber.
Martin Kreutzberg, 2011/2020