Marc Chesney
FinanzprofessorSeit vielen Jahren wohnt die Familie Chesney mit ihren drei Kindern in Fluntern. Gewissermassen in der Tradition des «Professorenhügels», wie der Zürichberg im 19. Jahrhundert auch genannt wurde, als sich die Universität Zürich dank Zuzügen von Wissenschaftlern aus ganz Europa zu einer Hochschule von internationalem Format entwickelte.
Marc Chesney studierte in Genf und habilitierte sich an der Sorbonne in Paris. Beide Städte scheinen Marc Chesney geprägt zu haben: Genf, die Stadt Calvins und Paris, die Metropole der Kultur. Im Gespräch, wie in seinen Vorlesungen, Interviews oder in seinen Publikationen Marc Chesney formuliert eloquent und temperamentvoll, vertritt seine Überzeugungen mit Nachdruck und immer bleibt bei aller wissenschaftlichen Prägnanz auch ein moralischer Grundanspruch spürbar.
Es ist etwas faul im Staate Dänemark
Professor für Finance und Vizedirektor des Instituts für Banking und Finance an der Universität Zürich – so die offizielle Bezeichnung seiner Tätigkeit. Auf den ersten Blick ein akademisch trockener Arbeitsbereich. Andererseits ist das Finanzwesen ein Gebiet, das in den letzten Jahren sehr «ins Gerede» gekommen ist: Hypothekarkrise, Finanzkrise, Eurokrise. Man hat sich daran gewöhnt. «Ist der Ruf erst ruiniert, lebt’s sich völlig ungeniert.» Mit diesem leicht zynischen Spruch liesse es sich zur Tagesordnung übergehen, wenn nicht die Folgen dieser Krisen für alle direkt als Steuerzahler und Bürger zu spüren wären.
Erst unlängst wurde publik, dass einige der grossen europäischen Banken, Konkurrenten im Geschäft, sich zu einem Kartell zusammengeschlossen hatten, um gemeinsam den Liborzins zu manipulieren. Der Liborzins, der Referenzkurs zu dem sich die Banken untereinander Geld leihen, sollte sich eigentlich als Ergebnis der Marktmechanismen ergeben. Stattdessen einigte man sich «unter der Hand». Als das ruchbar wurde «verpfiff» (NZZ) eine der beteiligten Banken, die UBS, ihre Konkurrenten und nahm die Kronzeugenreglung für sich in Anspruch.
Für Marc Chesney ist der LIBOR–Skandal nur einer von vielen Beweisen dafür, dass das Finanzwesen aus dem Ruder gelaufen ist. Seine Diagnose fasst er in klare Worte: «Bei den Praktiken des Gross-Bankensektors werden zu oft Symptome der Korruption, Ineffizienz und Bürokratie ersichtlich. Es ist schwer vorstellbar, dass dies der Bankensektor einer liberalen Wirtschaft sein sollte.»
Bei dieser Bestandsaufnahme belässt es der Finanzprofessor allerdings nicht. Er verlangt Änderungen, grundsätzliche, aber machbare.
Erster Bereich: Heute bestehen Grossbanken aus Kommerz- und Investmentbank. Sie sind es, um jene Formulierung zu gebrauchen, die alle Chancen hätten, zum Unwort des Jahrzehnts zu werden, «too big to fail». Marc Chesney: «Theoretisch können sie nicht mehr Konkurs gehen. Das ist aus liberaler Sicht eine Bankrotterklärung.» Zudem sind viele Investmentbanken, so Marc Chesney, zu Kasino-Banken verkommen. Nun hat Marc Chesney sicher nichts gegen den Spieltrieb vieler Menschen. Solange sie zum Spielen ihr eigenes Geld einsetzen. Anders aber dann, wenn, wie im Investmentbanking üblich, mit dem Geld Fremder, also dem der Kunden, Steuerzahler oder Aktionäre gespielt wird.
Deshalb fordert Marc Chesney die Trennung von Kommerz- und Investmentbanken, ein Trennbankensystem sowie ein deutliche Erhöhung der Eigenkapitalquote der Banken. Letzteres ist inzwischen eine mehrheitsfähige Position.
Und er verlangt einen «Zertifizierungsprozesse» für die Finanzbranche. Vergleiche hinken zwar öfters, aber für einmal klingen sie überzeugend. Zwei Bespiele führt Marc Chesney an: Ein Auto dessen Bremsen bei höherer Geschwindigkeit nicht funktionieren, verschwände in Kürze vom Markt und der Produzent hätte mit rechtlichen Konsequenzen zu rechnen. Und der Verkauf eines Medikaments ohne Zulassung der Swissmedic ist in der Schweiz verboten. Dagegen gibt es heute keine wirkliche Kontrolle, um den Verkauf komplexer und toxischer Finanzprodukte zu verhindern.
Also fordert Marc Chesney einen Zertifizierungsprozess auch für die Finanzbranche. Zum Beispiel durch die Finanzmarktaufsicht: «Es ist eine politische Entscheidung, die machbar ist …»
Und schliesslich sieht Marc Chesney noch einen dritten Hebel, an dem er ansetzen möchte, um die in Schieflage geratene Finanzbranche wieder ins Lot zu bringen: Die Transaktionssteuer. Ganze 0,1% jeder Finanztransaktion sollten künftig als Steuer gezahlt werden.
«In den USA hält heute ein Investor seine Aktien gemäss verschiedenen Quellen im Durchschnitt nur noch einige Minuten, oder sogar Bruchteile davon, während diese Dauer 1940 noch sieben Jahre betrug.» Ein Ergebnis des heute üblichen «Hochfrequenzhandels», der es erlaubt, innerhalb von Millisekunden zu kaufen oder zu verkaufen. Nun ist, so Marc Chesney «die Millisekunde nicht die zeitliche Einheit von Investitionen in der Realwirtschaft, die Wochen, Monate und Jahre erfordern. Sie ist vielmehr die zeitliche Einheit von Wetten in einer Kasino-Wirtschaft, die der Logik des Unternehmertums widerspricht…»
Gegen eine diesen Handel behindernde Transaktionssteuer läuft die Grossbankenlobby Sturm. Bisher mit Erfolg: «Sie schafft es», so Marc Chesney, die meisten Regierungen zu beeinflussen.»
Wie gesagt: Um ganze 0,1% der jeweiligen Transaktionssummen handelt es sich. Marc Chesney weist in diesem Zusammenhang gerne darauf hin, dass wir alle bei einem Restaurantbesuch anstandslos 8% Mehrwertsteuer zahlen. «Warum gibt es solche Ausnahmen für die Finanzindustrie?»
Öffentlich und offensiv
Die Resultate von Marc Chesneys Analysen finden natürlich Eingang in seine Vorlesungen und werden in den einschlägigen wissenschaftlichen Fachzeitschriften publiziert. Aber im Unterschied zu manchen seiner Fachkollegen verharrt Marc Chesney nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft. Er vertritt seine Ansichten öffentlich und offensiv. Ein Interview mit ihm in der «NZZ am Sonntag» im Jahr 2013 brachte ihm viel Zustimmung: «Marc Chesney hat zu 100% Recht» und «Jetzt müssen wir versuchen, diese urliberalen Ideen durchzusetzen…» Zugleich aber auch massive Anwürfe: «Herr Chesney ist ein reiner Theoretiker. Was ist eigentlich der Nutzen von so einem Professor?» Oder: «Ein Rundumschlag ohne Perspektive». Mit der Prophezeiung: «…mit solchen Ansichten wird Professor Chesney wohl nie in den Verwaltungsrat einer Bank gewählt werden» wird er wahrscheinlich gut leben können.
Man muss nagen wie ein Biber am Stamm
«Wenn ein Berater der Bank Lloyds über einen Zeitraum von neun Monaten nicht mindestens 90% seines Verkaufsziels erfüllte, wurde er automatisch um ein oder zwei Lohnklassen herabgestuft…», so ein Bericht unlängst in der NZZ.
Dies ist die Arbeitsrealität, auf die die künftigen Absolventen von Marc Chesney Instituts für Banking und Finance treffen könnten. Sie sollen nämlich durch ihre Ausbildung befähigt werden, «anspruchsvolle berufliche Tätigkeiten als Riskmanager, Financial-Analyst oder Portfoliomanager» auszuüben.
Diesen Studenten und Studentinnen gegenüber fühlt sich Marc Chesney in der Pflicht. Sein Anliegen ist es, ihnen während des Studiums nicht nur Fachwissen, sondern auch ethische Werte zu vermitteln: «Das sind meine Werte», «hier sind meine Grenzen» oder «was sollte ich nie tun.» Die Studierenden und insbesondere diejenigen, die im Finanzsektor arbeiten werden, sollten den Werten ihrer Erziehung und ihren Prinzipien in ihrem zukünftigen Beruf nicht widersprechen. Und Chesney erinnert an den ehrbaren Kaufmann aus Thomas Mann’s «Buddenbrocks», dessen Credo es war, gute Geschäfte zu tätigen und ruhig schlafen zu können. Und fügt an: «Ohne Schlaftablette.»
Martin Kreutzberg