Lili, Leopold und Peter Szondi
Die Geschichte gehört zu den makabersten Kapiteln des Holocaust. Als Adolf Eichmann 1944 in Ungarn die Vernichtung von 800000 Jüdinnen und Juden organisierte, wurde plötzlich im Juni in Budapest ein Spezialtransport mit 1600 jüdischen Menschen zusammengestellt. Sein Ziel: Die Schweiz. Die Motive dafür sind bis heute nicht restlos geklärt. Sollten diese Menschen verkauft oder gegen Lastwagen eingetauscht werden oder versuchten sich hier einige SS Offiziere ihr eigenes Überleben nach dem Krieg zu sichern? Man weiss es nicht. Tatsache ist, dass bei der Zusammenstellung dieses Transportes sorgsam auf seine Zusammensetzung geachtet wurde. Neben Frauen und Kindern sollten auch einige Prominente dazu gehören. Zu diesen zählte die Familie Szondi: Leopold, Professor in Budapest, seine Frau Lili und die beiden Kinder Vera und Peter. Aber statt in die Schweiz ging der Transport ins KZ Bergen Belsen. In völliger Ungewissheit über ihr Schicksal, quasi als Geiseln, mussten sie dort fünf Monate Hunger und Kälte erdulden, ehe sie doch noch kurz vor Weihnachten 1944 in die Schweiz kamen.Freud – der Lebensretter
Leopold Szondi ist der Begründer der Schicksalspsychologie. Geboren 1893 in Ungarn studierte er Medizin, war während des 1. Weltkrieges als Sanitätsoffizier an der Front. Einmal schlug ein Granatsplitter in seinen Tornister ein und blieb, anstatt ihn zu töten, dort in einem dicken Buch stecken: «Die Traumdeutung» von Sigmund Freud.
Nach dem Krieg arbeitete Leopold Szondi auf dem Gebiet der Endokrinologie, wurde Professor in Budapest und begann seine «Schicksalspsychologie» zu entwickeln, die auch auf internationaler Ebene grosse Aufmerksamkeit fand.
Als er dann fast wie durch ein Wunder vor dem Holocaust gerettet wurde und in die Schweiz kam, stand Leopold Szondi mit 51 Jahren beruflich zunächst vor dem Nichts. Freunde halfen der Familie zwar mit dem Notwendigsten, aber schwieriger gestaltete sich die wissenschaftliche Laufbahn Leopold Szondis in der Schweiz. Als Berater war «der Professor Szondi» zwar sehr begehrt, aber eine seiner wissenschaftlichen Reputation entsprechende Stellung erhielt er nicht. Unter dieser mangelnden Anerkennung hat Leopold Szondi sehr gelitten. Das änderte sich erst, als es ihm 1970 durch eine grosszügige private Donation möglich wurde, ein eigenes Institut in Zürich aufzubauen. 1986 starb er.
Schicksalsschläge
Ilona Szondi-Radvanyi, die Frau Leopold Szondis, wurde 1902 in Budapest geboren. Während ihre Schwester, die Schriftstellerin Anna Seghers («Die Toten bleiben jung», «Das siebte Kreuz») während der Naziherrschaft ins mexikanische Exil entkam, wurde Lili Szondi 1944 zusammen mit ihrem Mann und den beiden Kindern Vera und Peter nach Bergen Belsen deportiert. Dort sorgte sie durch ihre Entschlossenheit für den Familienzusammenhalt und so wohl auch für das Überleben der Familie Szondi. Unmittelbar nach ihrer Ankunft in der Schweiz schrieb Lili Szondi ihre Erlebnisse im Konzentrationslager auf: «Ein Tag in Bergen Belsen» – ein Text von grösster Eindrücklichkeit und Prägnanz.
Den frühen Tod ihrer Kinder Peter (1971) und Vera (1978) hat Lili Szondi nie überwunden. «Nicht nur Peter und Vera sind zugrunde gegangen, sondern sie haben auch uns zugrunde gerichtet … », so in einem Brief an ihre Cousine Zsuzsi Danc.
Im August 1986 ist Lili Szondi-Radvanyi gestorben.
Ein Tag in Bergen Belsen
«Szondi», ruft die Frau Unterbefehlshaber und ich halte meinen Essnapf hin. Ich muss beide Portionen in einen Essnapf füllen lassen, da unser anderer gestohlen worden ist. Dann kehre ich zum Tisch zurück und giesse meine Ration in meine Tasse um. Es ist ein Glück für mich, dass Vera keine Rüben mag und mir immer etwas von ihnen übrig lässt. Den grössten Teil der Kartoffeln geben wir auf einen Aluminiumteller, um aus ihnen später eine Crème für das Nachmittagsbrot zu machen. Dann fangen wir an zu essen. Vera isst betont langsam. Ich versuche mich ihrem Tempo anzupassen, weil ich glaube, dass man um eine Spur satter wird, wenn man sehr langsam isst. Manchmal drehe ich mich um und schaue tief in die Kessel, um nachzusehen, ob noch ein Rest – als «Zuschlag» – drinnen ist. Zum Glück ist noch etwas drinnen geblieben. Kaum bekommen wir den Zuschlag, ist auch schon Peter da, lächelnd, mit seinem Essnapf in der Hand. Sein Lächeln heisst: «Habt Ihr vom Zuschlag etwas für mich übrig gelassen?» Ich gebe ihm ein wenig davon, und wir stellen gemeinsam fest, dass der Zuschlag dem hungrigen Magen ungefähr so viel bedeutet, wie ein Tropfen Wasser dem Meer. (Lili Szondi Radvanyi)
Überleben unerlaubt
Peter Szondi, Sohn von Leopold und Lili, studierte in Zürich und Paris Literaturwissenschaft und Philosophie. Seine Dissertation 1961 «Zur Theorie des modernen Dramas» machte ihn mit einem Schlag berühmt. 1965 wurde Peter Szondi Professor an der Freien Universität Berlin, hielt Gastvorlesungen in Princeton und Jerusalem. Befreundet mit Theodor W. Adorno und den Schriftstellern Günter Grass, Uwe Johnson und insbesondere eng verbunden mit Paul Celan, zählte Peter Szondi bald zu den renommiertesten Literaturwissenschaftlern Europas. Eine steile wissenschaftliche Karriere. Kurz vor seiner Berufung an die Universität Zürich beging Peter Szondi 1971 Selbstmord. Er ertränkte sich im Berliner Halensee.
«Drei Juden. Drei Überlebende» überschrieb Hans Mayer seine Totenrede zu Jean Carl Amery, nach dessen Selbstmord. «Jean ist in Auschwitz gewesen: wie Paul Celan in Bergen-Belsen: wie Peter Szondi. Sie alle empfanden das Überleben als unerlaubt. Das war zu revidieren.»
Im Jahre 2006 wurde das Seminar für Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin in «Peter Szondi Institut» umbenannt.
Die Stadt Zürich ehrte Leopold und Peter Szondi, indem sie den Weg durch die Wiese zum Hotel Zürichberg nach ihnen benannte.
Martin Kreutzberg