Katharina Altherr
Pädagogin21 Jahre alt war Katharina Pool, als sie als junge Lehrerin erstmals vor einer Klasse stand: Vor 42 Schülerinnen und Schülern. An ein Elterngespräch von damals erinnert sie sich noch genau: «Sie als junges Fröllein können ja eigentlich von Kindern nicht so viel Ahnung haben ...» Eine Woche später, aus Katharina Pool war inzwischen Katharina Altherr geworden, sagten ihr die gleichen Eltern: «Ja, Sie als verheiratete Frau …» Fast drei Jahrzehnte hat Katharina als Lehrerin, Hausvorstand und Leiterin das Schulhaus Fluntern mit geprägt. 2013 wurde sie pensioniert.
Nachdenkliche Lehrerin und pragmatische Kinder
Katharina Altherr ist eine echte Fluntermerin. Hier geboren, hier aufgewachsen, hier in den Kindergarten und ins Schulhaus gegangen. 1982 kehrt sie zurück. Ans Schulhaus Fluntern. Zuerst als stundenweise arbeitende Lehrerin, dann als Klassenlehrerin. Später wird sie Hausvorstand und zuletzt Schulleiterin.
Eine solche langjährige, enge Verbundenheit mit dem Quartier kann natürlich für eine Lehrerin auch Probleme mit sich bringen. Etwa, wenn Eltern und Lehrerin sich bereits aus gemeinsamen Kindergartentagen kennen und weiter freundschaftliche Kontakte pflegen. Deshalb schien es Katharina Altherr als ein Vorteil, dass sie ihre Arbeit als Lehrerin am Schulhaus Fluntern mit einer Klasse zu beginnen konnte, in der sie nur wenige Eltern ihrer Schüler/innen kannte. Überflüssige Bedenken. Denn «Kinder, die ich privat kannte und die zu mir normalerweise «Du» sagten, sind in der Schule sofort auf das «Sie» umgestiegen. Kinder wollen ja nicht anders sein, als ihre ‹Gspäänli› in der Klasse.»
Angebot schafft Nachfrage
In kaum einem anderen Bereich hat sich in den letzten Jahren so viel verändert wie in dem der Schule.
Der Respektsperson vergangener Zeiten, in denen der Lehrer auf dem «Thron der Allwissenheit» sass, in der Kirche vielleicht noch die Orgel spielte und einen ähnlichen Stellenwert hatte wie der Herr Pfarrer oder der Herr Doktor, diesem Status trauert Katharina Altherr gar nicht nach. Im Gegenteil. Veränderungen gerade im Schulbereich, so betont sie, sind notwendig. Bis zu einem bestimmten Grad. Denn es gibt durchaus Entwicklungen, die Katharina Altherr im Rückblick nachdenklich stimmen.
«Anfang der neunziger Jahre war der Kontakt zwischen Eltern und Lehrern lockerer, hatten die Lehrer mehr Freiraum. Natürlich mussten sie auch damals ihre Entscheidungen begründen. Die aber wurden rascher als heute von den Eltern akzeptiert. Damals baten uns Eltern, ihr Kind zu einer bestimmten Lehrperson in die Klasse zu schicken, weil sie diese besonders schätzten. Heute sagen uns einige Eltern klipp und klar, dass ihnen eine bestimmte Lehrperson nicht passt. So etwas darf nicht sein.»
Von Reformen und Experimenten
2003 wurden in Zürich die Primarschulen reformiert. Sie wurden selbständiger, die Funktion einer Schulleitung eingeführt. Katharina Altherr bewarb sich erfolgreich um diese Position. Eines der Ziele der Reformen: Aus dem bisherigen «Ich und meine Klasse» sollte ein «Wir und unsere Schule werden.» Anfangs versuchte Katharina Altherr möglichst viele anstehende Entscheidungen quasi «basisdemokratisch» mit den Lehrer/innen zu besprechen, bis sie – zusammen mit den meisten Lehrpersonen – merkte, dass man «nicht alles bis ins Detail ausdiskutieren» muss. Ein Lernprozess für die Schulleiterin Katharina Altherr.
Reformen steht Katharina Altherr grundsätzlich positiv gegenüber. Nicht aber Experimenten. Experimente, und zwar solche im Wortsinn von Versuch oder Probe, lehnt die Pädagogin strikt ab. «Einem Kind, das von der ersten bis zur dritten Klasse an einem Schulexperiment teilgenommen hat, kann man nicht anschliessend sagen: ‘Ok, leider ist das Experiment gescheitert. Zurück auf Feld eins.‘ Wie beim Leiterlispiel.»
Vor allem aber müssen Reformen, das ist die feste Überzeugung von Katharina Altherr, sehr behutsam vorbereitet und die möglichen Folgen genau bedacht werden. Auch sollten sie nicht ‚von oben‘ verordnet werden. Ein Beispiel: So sinnvoll einerseits die frühe Fremdsprachenförderung sein kann, so sehr sollte andererseits vorher überlegt werden, welche Bereiche dann mit weniger Zeit auskommen müssen. «Auf der Strecke geblieben sind Deutsch und auch die Naturwissenschaften.»
Und etwas, was der Pädagogin Altherr immer sehr am Herzen lag und dessen Verlust sie heute noch bedauert: Der Schulgarten. «Als ich in Fluntern anfing, hatten wir einen Schulgarten. Jede Woche fand dort eine Lektion statt. Wir haben Erdäpfel gesteckt, Bohnen und Tomaten gesät, haben gejätet, geschaut, wie alles wächst. Manche Kinder hatten erstmals in ihrem Leben dreckige Finger oder haben einen Regenwurm gesehen. Im Herbst haben wir geerntet und die eigenen Kartoffeln gegessen. Dann wurden die Lektionen von 50 auf 45 Minuten gekürzt. Und was blieb auf der Strecke? Der Schulgarten. Pestalozzi hat gesagt: Erziehung beinhaltet Kopf, Herz und Hand.»
Kopf, Herz und Hand
Nach so vielen Jahren Lehrtätigkeit am Schulhaus Fluntern liegt die Frage nach den eindrücklichsten Erinnerungen nahe. Überraschend berichtet Katharina Altherr nicht von Erlebnissen im pädagogischen Bereich, sondern von solchen, die der pestalozzischen Dreieinigkeit von «Kopf, Herz und Hand» näher stehen.
Einige Jahre hat Katharina Altherr mit jeder ihrer Klassen ein abendfüllendes Musical einstudiert. Sechs bis acht Monate wurde probiert. Und alles in der Schule selber produziert: Die Kostüme, das Bühnenbild, auch die Requisiten. «Vor der Premiere versammelten wir uns bei geschlossenem Vorhang auf der Bühne. Und dann das ‹Toi, toi, toi›. Da lief es mir immer kalt den Rücken hinunter.»
Ein Lied, ein Tanz, eine Zeichnung
Im Sommer 2013 wurde Katharina Altherr pensioniert. Es gab einen grossen Abschied. Genauer nicht nur einen, sondern drei: Zuerst die offizielle Verabschiedung durch die Kreisschulpflege Zürichberg im Namen der Stadt Zürich im Belvoir. Sehr gediegen. Mit Urkunde und Blumen, einem silbernen Kugelschreiber und einem Büchergutschein. Dann hat Walter Altherr, ihr Mann, für sie im Schulhaus ein «tolles Fest» organisiert, an dem sich die Lehrerschaft mit Musik und Gesang von ihr verabschiedete. Besonders gefreut hat sich aber Katharina Altherr über den dritten Abschied: «Eines Morgens haben mich zwei Sechsklässler geholt und mich von Klasse zu Klasse geführt. Jede hatte für mich etwas vorbereitet: Ein Lied, einen Tanz oder eine Zeichnung. Vom Kindergarten durch alle Klassen hindurch …»
Nun also der Ruhestand. So jedenfalls die offizielle Bezeichnung. Denn im Ruhestand befindet sich Katharina Altherr keineswegs. Jetzt kann sie sich endlich Zeit für jene Dinge nehmen, die vorher «nebenbei» erledigt werden mussten oder zu kurz kamen: Für die «Gesellschaft zu Fraumünster», deren Skriptorin sie ist, oder für ihr liebstes Hobby: Das Lesen. «In meinem bequemen Sessel sitzen und einmal 100 Seiten hintereinander lesen, das geniesse ich.»
Mehr Zeit für die Enkel will sich Katharina Altherr natürlich künftig ebenfalls nehmen. Wird hier auch Erziehungsarbeit geleistet? «Nein, das überlasse ich Tochter und Schwiegersohn. Grossmami darf verwöhnen. Allerdings, wenn ich sage ‚Schue aalegge und sie loset nöd …»
Martin Kreutzberg