Elisabeth Joris
Historikerin, Feministin, AutorinNovember 2013. Das Schweizer Fernsehen hatte gerade seine Dokumentationsserie «Die Schweizer» gesendet. Schon der Titel, vor allem aber die Themen der einzelnen Folgen waren auf Widerspruch gestossen. Wo blieben die Schweizerinnen? Gab es sie überhaupt nicht in der helvetischen Geschichte? «Das geht so nicht», fanden einige Historikerinnen und Journalistinnen. Das Ergebnis war dann eine denkwürdige «Club Extra» Sendung im Fernsehen. Esther Girsberger und Elisabeth Joris belegten sachkundig und überzeugend die einseitige Sicht des Fernsehens auf die Schweizer Geschichte. Der ansonsten wortgewaltige Generaldirektor des Schweizer Fernsehens, Roger de Weck, hatte den freundlich, aber nachdrücklich vorgetragenen Argumenten von Elisabeth Joris jedenfalls wenig Substantielles entgegenzusetzen.
Von der bewegenden Wirkung der Kniesocke
Aufgewachsen ist Elisabeth Joris in den fünfziger Jahren in einer, wie sie es beschreibt «bildungsbürgerlichen Familie mit vielen Büchern» im Oberwallis, in Visp. Der Vater Chemiker, die Mutter engagiert im «Katholischen Frauenstimmrechtsverband. Im Nachbarhaus befand sich die Anwaltskanzlei von Peter von Roten. «Iris von Roten, die Verfasserin von ‹Frauen im Laufgitter›» erinnert sich Elisabeth Joris, «war mir von Kindheit an ein Begriff.» «Atypisch» nennt Elisabeth Joris ihr Elternhaus für das Oberwallis.
Noch immer bestimmte dort der Klerus, was Recht und Moral war, in der Kirche sassen am Sonntag die Frauen links und mit Hut, die Männer rechts und barhäutig.
Der Streit entzündete sich an Kniesocken. Die waren in der von Klosterfrauen geleiteten Schule verboten, galten als unkeusch. «Unkeusch», ein Wort, über das sich Elisabeth Joris heute amüsieren kann. Ihre Mutter hatte eine andere Ansicht, als die Klosterfrauen: «Ich kleide meine Kinder selbst ein», entschied sie. Die ältere Schwester von Elisabeth Joris wurde damals fast jeden Tag von den Klosterfrauen heimgeschickt: Wegen Unkeuschheit.
Auch so etwas hat Elisabeth Joris geprägt: «Ich war von Kindheit an auf ein Leben in Dissidenz vorbereitet. Das gab mir die Fähigkeit, alle diese Diskriminierungen einzuordnen. Und dazu gehört natürlich auch das Reflektieren über die Zurückstellung der Frau.»
Fräulein zum Diktat bitte
Es ist weitgehend in Vergessenheit gerate, aber es gehört zur jüngeren Geschichte der Schweiz: Im Wallis gab es bis in die sechziger Jahre für Mädchen keine gymnasiale Ausbildung. Eine Möglichkeit – die Handelsschule. Elisabeth Joris absolvierte sie, erwarb dort die Handelsmatura und arbeitete danach in einem Hotel. Das Tippen und Stenografieren, das «Frl. zum Diktat bitte» befriedigte sie gar nicht. Sie wollte Sekundarlehrerin werden, an der Uni Zürich studieren. Das böse Erwachen gab es für Elisabeth Joris dann bei der Immatrikulation. Ihre Handelsmatura aus dem Wallis wurde nicht akzeptiert, weil eidgenössisch nicht anerkannt. Es gab Tränen aus Enttäuschung und wohl auch aus Wut. Die Mitarbeiterin der Uni gab Elisabeth Joris dann den Rat, bei Regierungsrat Walter König ein Gesuch für eine Ausnahmebewilligung zu stellen. «Der war vom Landesring, also von Duttweilers Partei», erinnert sich Elisabeth Joris, «und die war sehr auf Gleichberechtigung ausgerichtet.» Sie bekam dann eine Ausnahmeerlaubnis, Sekundarschullehrerin studieren zu dürfen. Vier Jahre später, nach Abschluss des Studiums und mit dem Patent als Sekundarschullehrerin, immatrikulierte sie sich für das Geschichtsstudium am der Uni Zürich und niemand fragte nach dem Maturazeugnis: «Ich habe schön geschwiegen.»
Noch einmal schien Elisabeth Joris das Problem «Matura» einzuholen. Vor fünf Jahren reichte sie ihre Dissertation ein. Wieder wäre dafür die Vorlage einer eidgenössisch anerkannten Matura notwendig gewesen. Wieder fragte niemand danach. Das wäre nun aber unverständlich gewesen, denn Elisabeth Joris konnte inzwischen auf eine eindrucksvolle Anzahl von Forschungsergebnissen und Publikationen verweisen, war zu einer der profiliertesten Schweizer Historikerinnen geworden.
Schreib das auf Elisabeth
Die Ursprünge der schriftstellerischen Arbeit von Elisabeth Joris gehen wieder zurück auf ihre Heimat, das Wallis. Auch hier begannen sich in den siebziger Jahren scheinbar als unveränderlich geltende Strukturen aufzulösen: Es herrscht Hochkonjunktur, das Fernsehen kam, Autofahren wurde alltäglich, der Einfluss des Klerus nahm ab. Wenig später gründete Elisabeth Joris zusammen mit Mitstreiterinnen die «Rote Anneliese», eine linke Zeitung. «In einer WG, auf dem Boden kniend, haben wir sie hergestellt.» Und weil Elisabeth Joris damals schon studierte, hiess es: «Schreib du, Elisabeth. Und so bin ich überhaupt zu Schreiben gekommen …»
Eine Vielzahl von Publikationen in Fachzeitschriften und Büchern ist es inzwischen geworden: «Wandel im Oberwallis», «Brave Frauen, aufmüpfige Weiber» (zusammen mit Heidi Witzig) ,»Liberal und eigensinnig» und, als Herausgeberin, «Frauengeschichten», heute ein Standardwerk der Schweizer Geschichtsschreibung, oder «Tiefenbohrungen», die Geschichte der Frauen und Männer auf den grossen Tunnelbaustellen der Schweiz.
Alfred Escher baute den Gotthardtunnel, aber hatte er, in Anlehnung an Bertolt Brecht, nicht wenigstens eine Köchin dabei? Waren es ausser ihm nur die Mineure und Ingenieure, die den Tunnel bauten? «Wenn man nur ein bisschen nachdenkt», so Elisabeth Joris, «kommt man schnell darauf: Die müssen ja auch essen, schlafen, die Kleider müssen gewaschen werden. Da kam nicht nur ein Heer von Mineuren, sondern zusammen mit ihnen auch ihre Schwestern, die die Kantine betrieben oder ihre Mütter, die sechs Betten offerierten. Nicht als Ehefrauen kamen sie, sondern als berufstätige Frauen.»
Das Wunder von Hottingen
Die Vereinbarkeit von Familie und Berufsarbeit - das war für Elisabeth Joris nicht nur ein Thema, dem sie ihre wissenschaftliche Arbeit widmete, sondern für die Mutter zweier Söhne auch ein sehr praktisches Problem. Vor gut 30 Jahren in Zürich noch viel schwieriger zu lösen, als heute. Strukturen für eine Kinderbetreuung waren bestenfalls in Ansätzen vorhanden. Neue Wohnformen als eine Lösung des Problems wurden deshalb damals intensiv diskutiert. Elisabeth Joris und ihr Mann Peter Seiler beschlossen, Nägel mit Köpfen zu machen. Gemeinsam mit Freunden gründeten sie eine Genossenschaft und suchten nach einem geeigneten Haus für ihr Projekt. Ein Kauf auf dem Immobilienmarkt war auch zu jener Zeit unerschwinglich. Also schrieb Peter Seiler einen Brief an die Stadt Zürich: Wir brauchen ein Haus! «Wir hatten Null Hoffnung, dass er eine Wirkung haben könnte», erinnert sich Elisabeth Joris. Aber das Wunder geschah: Nicht nur ein Haus offerierte die Stadt ihnen, sondern gleich neun. Heute ist Elisabeth Joris davon überzeugt, dass dieses Wunder der damaligen politischen Situation in Zürich zu verdanken ist. Es war die Zeit der Jugendunruhen von 1980.
Die Genossenschaft entschied sich dann für ein stark renovierungsbedürftiges Haus in Hottingen. Für das Zentrum des Quartiers ein Segen. Denn das Haus sollte abgerissen werden. Die Pläne für ein Einkaufszentrum an seiner Stelle lagen schon vor. Stattdessen wurde es renoviert und heute ist das inzwischen denkmalgeschützte Haus ein Schmuckstück in Hottingen.
2018 wurde Elisabeth Joris für ihre wegweisenden Arbeiten zur Schweizerischen Alltagsgeschichte mit dem Kulturpreis des Schweizer Gewerkschaftsbundes ausgezeichnet.
Martin Kreutzberg