Abt Urban
Vor 25 Jahren verliess Urban Federer Fluntern. 2014 kehrte er zurück. Als Pater Urban, Abt des Klosters Einsiedeln. Bei Sechseläuten war er Ehrengast der Zunft Fluntern und erinnerte sich an seine Kindheit am Zürichberg.Als Zürcher hat man es nicht nur einfach. Zürcher sind nicht überall beliebt. Schliesslich ist jeder sechste Schweizer ein Zürcher. Und für unsere Schweigsamkeit sind wir auch nicht gerade bekannt. Als ich in Einsiedeln ankam, traf ich auf einen jungen Mann mit einem T-Shirt: Die Aufschrift: «Juhui. Ich bin kein Zürcher.»
Die wenigsten bedenken dabei, dass Zürich nicht gleich Zürich ist. Noch mehr als die Stadt hat mich Fluntern, der Zürichberg geprägt. Noch genauer: Ich bin ein Kind des oberen Zürichbergs. Während die Kinder von unten ihre gesamte Schulzeit im Schulhaus Fluntern verbrachten, gingen wir zuerst einmal drei Jahre ins Schulhaus Heubeeribüel. Noch heute staune ich über die wunderschöne Lage dieses Schulhauses. Von hier habe ich fast nur gute Erinnerungen. Dass die Lehrerin, weil sie mir nicht beikam, mich an den Haaren oder den Ohren riss und mir öfters Ohrfeigen gab, habe ich beinahe vergessen. Geblieben ist anderes: Wenn es im Winter unten in der Stadt regnete, schlittelten wir oben auf dem Zürichberg auf Plastiksäcken die Wiese herunter und der alte Kasten des «Alkoholfreien Kurhauses», heute das vornehme «Hotel Zürichberg», prägte wohl meine Phantasie ähnlich wie bei den heutigen Jungen die Burgen aus «Harry Potter». Eine Zeit lang gehörte auch eine leerstehende Villa an der Susenbergstrasse, zu der wir uns Zugang verschafft hatten, zu unserem Bubenreich. Die Wälder des Zürichbergs entdeckte ich beim Räuberli-Spielen, durch die Wölfli und die Pfadi. Schlittschuhlaufen, Schwimmen oder Tennisspielen warteten beim Dolder. Und wenn meine Familie auswärts essen ging, waren das Alte und das Neue Chlösterli, das Waldhaus, der Alte Tobelhof oder die Rossweid beliebte Ziele. Und dann der Schulsilvester. Einer meiner Lieblingstage. Da durfte ich dann wirklich Bub sein: Einmal früh aufstehen (heute stehe ich wohl jeden Tag früher auf!), organisiert Lärm machen dürfen und dann ein gutes Zmorge im «Alkoholfreien Kurhaus» – einfach ein Erlebnis.
Das tönt alles zum Schreien positiv. Bei älter werdenden Menschen werden die Erinnerungen halt verklärt. Nun ja, ich gibt aus Ausnahmen: Ich erinnere mich liebend gerne an den alten Herrn Jecklin, den Inhaber des gleichnamigen Musikhauses. Er war mein Lieblingsnachbar, gab er mir doch regelmässig die neueste Kasperli-Platte. Vor noch nicht langer Zeit zerstörte mir allerdings meine Mutter meinen Mythos über diesen Herrn. Denn als ich ihr diese Geschichte erzählte, meinte sie trocken: Herr Jecklin hätte im Alter keine Nerven mehr für Kinder gehabt, vor allem nicht für mich. Um mich ruhig zu stellen, hätte er mir darum Platten geschenkt.
Fluntern ist eben nicht gerade das kinderfreundlichste Gebiet Zürichs. Dafür ist das Quartier zu ruhig. Überhaupt wäre die Anonymität der Gegend heute für mich die grösste Herausforderung. Wo in Einsiedeln das «Guet‘ Tag» des Nachbarn gesprochen wird – das Zürcher «Grüezi» habe ich mir abgewöhnt –, da beginnt auf dem Zürichberg die Alarmanlage der Nachbarschaft zu dröhnen.
Bleibt eine Frage: Wie kommt eigentlich einer vom oberen Zürichberg in das Kloster Einsiedeln? Ist es da zu einer religiösen Erleuchtung auf dem Zürichberg gekommen? An eine kann ich mich erinnern. Ich hatte einen Engel entdeckt! Er war gross und glänzte und zog mich an. Eines Tages, ich war schon einige Meter an ihm vorbei, merkte ich, dass ich ganz allein auf dem grossen Platz war. Ich musste ihn haben. Ich nahm all meinen Mut zusammen, ging zurück und griff nach meinem Engel.
Danach kam es wohl zum schnellsten Sprint meines Lebens. Ich hörte kaum mehr die Alarmanlage, so schnell war ich in unserem Haus. Mein vermeintlicher Engel war nämlich die Kühlerfigur Emily eines benachbarten Rolls Royce…
Urban Federer