Wo die bunten Fahnen wehen — Familiengärten in Fluntern

Der Panoramaweg vom Hotel Zürichberg zum Theater Rigiblick, die sogenannte Rentnerpiste, bietet eine spektakuläre Aussicht: Rechts der Zürichbergwald und links, bei schönem Wetter, Stadt, See und Alpengipfel.
Zuerst aber fällt der Blick auf ein einziges Fahnenmeer. Es wehen – international – die Flaggen von Italien, Griechenland, Portugal, von Kroatien und der Schweiz und – interkantonal – die vom Aargau über jene Graubündens bis hin zur weiss-blauen Zürcher Fahne friedlich nebeneinander. Es handelt sich um das Kleingartenareal Susenberg.
Im Volksmund hält sich für diese spezielle Form der Freizeitgestaltung allerdings hartnäckig der Name «Schrebergärten»
.

Schrebers Gärten
Benannt sind sie nach dem Mediziner Dr. Schreber, Leibarzt eines russischen Grossfürsten, Professor für Orthopädie an der Universität Leipzig und Naturfreund.
Mitte des 19. Jahrhunderts setzte in Europa rasant der Prozess der Industrialisierung ein. Allerorts schossen Fabriken aus dem Boden. Fabriken, das hiess einerseits technischer Fortschritt und andererseits Dreck in der Luft. Heute würde man das vornehmer mit «zunehmender Umweltbelastung» umschreiben. Prof. Schreber suchte deshalb nach Grünflächen, die den Kindern in den Industriestädten als Spielplätze dienen und so für deren Gesundheit förderlich sein könnten. Nach Schrebers Tod 1861 legte dessen Schwiegersohn zusammen mit Leipziger Bürger/innen einen Spielplatz an und nannte ihn zu Gedenken an seinen Schwiegervater «Schreberplatz». Zweifelsohne eine frühe Form von Bürgerinitiative.
Auf diesem Areal wurde dann ein Garten angelegt, auf dem die Kinder das «Gärtnern» lernen sollten. Doch da das bei den lieben Kleinen recht schnell den Reiz des Neuen verlor, prägte rasch wild wucherndes Unkraut den «Schreberplatz». Wie so oft griffen die Eltern ein und übernahmen. Aus den «Kinderbeeten» wurden «Familienbeete», die man später parzellierte und mit Zäunen umgab: Die Geburt der «Schrebergärten».

Die meisten Schrebergärten gibt es…?
Das war vor 130 Jahren. Heute ist alles bestens organisiert. Regional, national und international. Es gibt einen europäischen Verband, den «Office International du Coin de Terre et des Jardins Familiaux», mit Sitz in Luxemburg mit drei Millionen Mitgliedern.
Nach wie vor und wenig erstaunlich ist, dass das Ursprungsland der Schrebergärten Deutschland mit einer Million die meisten Mitglieder stellt und es in Norwegen, schon aus topografischen Gründen, gerade einmal 2000 organisierte Kleingärtner/innen gibt. Die mit Abstand meisten Schrebergärtner – jedenfalls im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl – stellt Polen mit 850000 Aktiven.
Die Schweiz ist Mitglied in diesem europäischen Verein. Mit ihren 27000 Mitglieder/innen nimmt sie einen soliden Mittelfeldplatz ein.
In Zürich gibt es 80 Kleingartenanlagen mit etwa 6000 Parzellen.
Auf Fluntermer Territorium liegen vier Kleingartenanlagen: Das private Areal des «Vereins für Volksgesundheit», die Anlagen an der Dreiwiesenstrasse und an der Krähbühlstrasse – sie gehören zum Ortsverein Fluntern – und die grosse Anlage oberhalb der Susenbergstrasse mit 344 Parzellen und eigenem Verein.
Kaufen kann man die Kleingärten nicht, nur pachten. Und hier ist Geduld gefragt. Denn die Warteliste, so Susann Mäusli-Bruggischer, die Präsidentin Ortsvereins Fluntern, ist sehr lang. Die Zeiten nämlich, als der Schrebergarten als Inbegriff des Spiessigen, des Kleinbürgerlichen galt, sind vorbei. Heute gelten sie gerade bei «Alternativen» als chic. Selbst gepflanztes, gehegtes und geerntetes Gemüse und Obst, natürlich biologisch einwandfrei, ist «in».

Ordnung ist das halbe Leben
Für alle städtischen Familiengärten gilt eine «Nutzungs- und Bauordnung für Kleingärten der Stadt Zürich», kürzer die «Kleingartenordnung» oder noch knapper die «KGO». Ein treffliches Beispiel für den schweizerischen Hang zur Regeldichte. Die Kleingartenordnung legt in nicht weniger als 48 Artikeln fest, was in den Kleingärten erlaubt ist und was nicht:
«Lebhäge (geschnittene Hecken) sind unter der Schere zu halten und dürfen die Höhe von 1.20 m nicht überschreiten» (Art.8), «Gerätekisten dürfen höchstens 2.20m lang, 0.75m breit und 0.90m hoch sein» (Art.35), «Frühbeetkisten» dagegen sind « bis zu einer Höhe von 0.90m sind zulässig und gelten nicht als Tomatenhaus» (Art 36).
Inhaltlich setzt die Verordnung vor allem zwei Schwerpunkte. Auf die naturnahe Pflege der Gärten – «Die Zeit der Riesenkürbisse ist vorbei» (Susann Mäusli) – und auf der Integration der ausländischen Kleingärtner/innen. Von da erklärt sich denn auch das vielfältige Fahnenmeer über den Gärten.
In der Regel ist das Wässern der Gärten mit dem Schlauch verboten. «Der Anschluss automatischer Bewässerungsanlagen an das Trinkwassernetz ist verboten» (KGO, 41.2) Jedes Beet und jeder Strauch muss mit der Giesskanne bewässert werden. In heissen Sommern eine gesundheitsfördernde, aber anstrengende Tätigkeit. Wie aber kann bei längerer Abwesenheit, etwa in den Ferien, das Vertrocknen der liebevoll gehegten Anpflanzungen verhindert werden? Da muss dann der Gartennachbar oder die Nachbarin als Wasserträger einspringen. Insofern übt das Gebot des Kannegiessens auch einen gewissen Zwang zum gutnachbarlichen Miteinander, mithin zur angestrebten Integration unter den Familiengärtner/innen aus.

Herbstzeit – Erntezeit
Ab Ende August, Anfang September beginnt dann die Zeit, in der auch die Freunde und Bekannten vom Fleiss und Schweiss der Kleingärtner/innen profitieren. Plötzlich stehen sie vor der Tür mit einem prall gefüllten Beutel Tomaten, Zucchini, Pflaumen oder Gurken: «Für euch. Aus unserem Garten. Pro spezie rara. Alles bio.» Sehr nett. Nur manchmal fühlen sich die so reich Beschenkten etwas überfordert. Denn: Wie bereitet man violette Kartoffeln zu?

Martin Kreutzberg