Wissensstandort Fluntern – Von Katholiken, Nörglern, Genies und Rosenzüchtern
Das «grosse Kommen» setzte in Fluntern um 1830 ein. Lebten vorher in der Gemeinde gegen 1000 Menschen, so stieg ihre Zahl bis 1900 auf 4000 an. Ausschlaggebend dafür waren in erster Linie die Gründungen der Universität (1832), der Bau des Kantonsspitals auf dem Gebiet von Fluntern (1842) und des «Polytechnikums» 1855. Sie zogen Professoren und Studenten aus dem In- und Ausland an. Erstere wählten wegen der guten Luft immer mehr den Zürichberg als Wohnort, Letztere die Gegend um die Plattenstrasse, die zu einem regelrechten Studentenviertel, dem «Quartier Latin» von Zürich, wurde.Auch städtebaulich veränderte sich Fluntern grundlegend: Den Zürichberg hinauf wurde das Quartier nach und nach mit immer mehr Villen überbaut. Das Gebäude von Universität und ETH, erbaut 1864 von Gottfried Semper und bis zum Bau des heutigen Universitätshauptgebäudes von Curjel & Moser, den Architekten der Grossen Kirche Flunten im Jahre 1914 von beiden Einrichtungen gemeinsam genutzt, über den Neubau des Universitätsspitals von Haefeli, Moser, Steiger (1941 – 1953) oder, nach dem Abriss des Plattengartens, das Schwesternhochhaus aus dem Jahre 1959 – all diese Gebäude prägen das heutige Stadtbild von ganz Zürich. In den nächsten Jahren soll hier, werden die Pläne von Kanton und Stadt Zürich realisiert, «Bertold», das «Hochschulgebiet Zürich Zentrum» errichtet werden – ein gigantisches Projekt, das Fluntern wieder und nicht nur städtebaulich stark verändern wird.
Die Chorherren müssen gehen
Historisch betrachtet hat Zürich nur eine kurze Tradition als Standort von Lehre und Forschung. Bologna, Paris, Oxford, Prag oder Leipzig wurden einige Jahrhunderte vorher gegründet. Ganz zu schweigen von der «Ez-Zitouma» in Tunis aus dem Jahre 737. Und im 18. Jahrhundert kam es dann zu einer regelrechten Gründungswelle von Universitäten in Europa: In St. Petersburg, Lyon, in Warschau oder in Berlin. In der Schweiz dagegen stritt man sich lange über mögliche Orte für eine Universität und natürlich über deren Finanzierung. Bern oder Zürich waren die Kontrahenten. Das Rennen machte, wenn auch nur knapp, Zürich.
Hier war die vom Grossen Rat im April 1832 beschlossene «Aufhebung des Chorherrenstiftes» die Initialzündung.
Das «Chorherrenstift zum Grossmünster» war ein Relikt noch aus der Zeit der Reformation, verfügte aber über ein grosses Stiftungskapital. Die Chorherren wehrten sich deshalb lang und vehement gegen die Aufhebung des Stiftes, verloren sie doch damit ihre nicht unerhebliche Pfründe. Erst als man den aktuellen Chorherren «lebenslängliche Vorteile» zugesichert hatte, gaben sie ihren Widerstand auf und das «sehr bedeutende Stiftsvermögen» konnte für die Finanzierung von «höheren Lehranstalten» eingesetzt werden.
Danach ging es rasch. Im September 1832 beschloss der «Grosse Rat» die Errichtung einer Hochschule in Zürich, im Dezember wurde ihr das «Hinteramt», das ehemalige Augustinerkloster, als Arbeitsort zugwiesen, im März 1833 erschien das erste Vorlesungsverzeichnis, liessen sich 161 Studierende (61 aus Zürich, 67 aus der Schweiz und 33 aus dem Ausland immatrikulieren. Die offizielle «Eröffnungsfeier erfolgte am 29. April 1833 in Gegenwart der in Zürich versammelten Tagsatzung im Grossmünster. Den Schluss bildete ein Bankett im Kasino und der erste Kommers, der Zürich sah.» (Zurlinden, 100 Jahre Stadt Zürich, S. 95)
Zürich zieht an
Nun war die Gründung der Universität zunächst nicht mehr als ein Verwaltungsakt. Zu ihren Betrieb brauchte es aber Wissenschaftler. Möglichst natürlich solche von internationaler Reputation. Und die waren Anfang des 19. Jahrhunderts in der Schweiz eher dünn gesät.
Aber die junge Universität hatte auch etwa zu bieten. Sie war die erste Universität, die ihre Gründung nicht einem Monarchen oder der Kirche verdankte, sondern einem demokratischen Staatswesen. Als nach der ersten Demokratiebewegung in den deutschen Staaten 1832 und besonders nach den Revolutionen von 1848/49 in Europa viele Wissenschaftler und Künstler verfolgt wurden, ihre Wirkungsstätten verloren, folgten sie gerne einem Ruf an die kleine, damals noch wenig bedeutende Universität Zürich, wurde Fluntern für sie wichtig als Arbeits- oder Wohnort.
Einige blieben, andere gingen wieder, mitunter nicht ganz freiwillig.
So etwas kann nur in Zürich vorkommen – Der Mediziner Lukas Schönlein
Von den 161 Studenten, die sich bei Gründung 1833 an der Universität einschrieben, wählten nicht weniger als 98 die medizinische Fakultät. Mit Grund. Denn an deren Spitze stand der Professor Lukas Schönlein. An ihn erinnert die vielleicht kürzeste Strasse Zürichs an der Platte. Gerade fünf Häuser stehen auf ihr. Immerhin hat man von ihnen noch einen direkten Blick auf das Gelände des ehemaligen Kantonsspitals, auf dessen Bau Lukas Schönlein massgeblichen Einfluss hatte.
Lukas Schönlein war nicht ganz freiwillig nach Zürich gekommen. Und ganz freiwillig ging er auch nicht wieder.
Lukas Schönlein, 1793 in Bamberg geboren, war, so würde man es heute nennen, ein Senkrechtstarter auf dem Gebiete der Medizin. Er gilt als Begründer naturwissenschaftlicher Methoden in der Medizin, führte das Stethoskop und das Mikroskop in die Diagnostik ein. Mit 31 Jahren wurde er als Professor an die Julius-Maximilians-Universität, einer der ältesten in Deutschland, berufen. 1830 ernannte ihn die Stadt Würzburg zu ihrem Ehrenbürger. Doch dann erhielt seine Karriere einen Knick.
Verfolgt wegen demokratischer Umtriebe
In Deutschland entstand um 1830 so etwas wie eine Demokratiebewegung. Getragen von den Universitäten wurde sie durch die Regierungen der deutschen Staaten auf das Schärfste bekämpft. In Würzburg geriet der 27 jährige Medizinprofessor in das Fadenkreuz der Behörden. 1832 wurde er «wegen demokratischer Umtriebe» von seinem Posten enthoben und als «Kreis-Medizinalrath» nach Passau in die hinterste bayrische Provinz verbannt. Als Schönlein sogar die Verhaftung drohte, floh er nach Frankfurt/M. Und dort erreicht ihn der Ruf an die eben gegründete Universität Zürich.
So kam der Professor Lukas Schönlein nach Zürich. Ein Glücksfall für die junge Universität, die so mit einem Schlag an internationalem Renommee gewann. Schönlein selbst beliess es nicht bei Lehre und Forschung. Schnell wurde er zu einem der gefragtesten Ärzte Zürichs. Und zu einem engagierten Befürworter des Neubaus eines Kantonsspitals: « … nahmentlich durch Herrn Professor und Director Schönlein wurde einleuchtend dargethan, dass in Zürich … die Hospitäler eigentlich nichts anderes wären als Pfrundhäuser, Unterstützungsanstalten für alte, abgelebte oder mit unheilbaren Leiden behaftetet Leute … und dass es daher höchst nothwendig und auch ganz im Geiste der Zeit sey, … ein neues Krankenhaus zu erbauen.» (Steinebrenner, Zwei Zürcher Krankenhausplanungen, S. 14) 1834 beschloss dann der Zürcher Regierungsrat, den Krankenhausneubau auf dem Gelände des Schönlein-Gutes in Fluntern zu errichten. Den Auftrag erhielten die beiden damals 23 Jahre alten Architekten Wegmann und Zeugherr. Lukas Schönlein nahm auf das Projekt direkten Einfluss: « … die Pläne für das Krankenhaus seien einige Male von Herrn Professor Schönlein überprüft und seine Wünsche seyn berücksichtigt worden.» (Steinebrenner, Zwei Zürcher Krankenhausplanungen, S. 17) 1842 konnte das Zürcher Kantonsspital eröffnet werden. Allerdings ohne den Herrn Professor Schönlein.
Katholiken unerwünscht
Lukas Schönlein fühlte sich wohl in Zürich. Immer mehr Studenten kamen seinetwegen an die Universität, als Arzt war er die Autorität in der Stadt. Seine, wie ihn Zeitgenossen beschrieben, «bayrisch-göttliche Grobheit» wurde ihm gerne verziehen. Der Stadtrat stellte sogar von sich aus den Antrag, Lukas Schönlein das Bürgerrecht Zürichs zu schenken. In der Bürgerversammlung vom 9. Juni 1836 allerdings wurde seine Einbürgerung mit 205 zu 191 Stimmen abgelehnt. Der Grund: Schönlein war Katholik. Sein Kommentar dazu: «So etwas kann auch nur in Zürich vorkommen.»
1839 erhielt der Katholik Schönlein dann einen Ruf an die Charité in Berlin, der Hauptstadt des protestantischen Preussens. Dort allerdings galt immer noch das Wort von Friedrich dem Grossen: «Bei mir kann jeder nach seiner Fasson selig werden.»
Ich führe ein böses Maul – Der Historiker Theodor Mommsen
An Theodor Mommsen erinnert eine Quartierstrasse, die in Fluntern von der Hochstrasse hinauf zur Toblerstrasse führt.
Diese Ehrung allerdings ist mehr seinem späteren Ruhm als Nobelpreisträger geschuldet, als den Spuren, die Mommsen in Zürich hinterlassen hat.
Als «glänzende Aquisition» 1852 für die junge Zürcher Universität angekündigt, verliess Mommsen Zürich bereits zwei Jahre später.
Wohl gefühlt hat er sich hier nie.
Am 3. Mai 1849 brannten in Dresden, der Hauptstadt des Königreichs Sachsen, die Barrikaden. In Leipzig, zu Sachsen gehörend, «wurde hektisch beraten. Die verschiedenen Vereine der Stadt bereiteten einen Aktionsausschuss vor.» Auch der 32 jährige Professor für «Römisches Recht» Theodor Mommsen engagierte sich. Zusammen mit anderen Professoren forderte er, den Aufständischen in Dresden zu Hilfe zu eilen. «Als man damit nicht durchdrang, zogen Mommsen, Haupt und Jahn durch die Strassen und forderten Passanten zu einer Volksversammlung auf.» Dieses für deutsche Professoren eher ungewöhnliche Engagement währte allerdings nur einige Stunden. Schon am Nachmittag zog man sich wieder zurück.
Der Aufstand in Dresden wurde unterdes von preussischen Truppen niedergeschlagen. Viele der Teilnehmer wurden erschossen oder inhaftiert. Einigen gelang die Flucht in die Schweiz. So dem Architekten Gottfried Semper oder dem Musiker Richard Wagner.
Bei Theodor Mommsen lief es glimpflicher ab. Zwar wurde er im Oktober 1850 zu einer Strafe von neun Monaten Gefängnis verurteilt, von der ihn die Berufungsinstanz jedoch freisprach. Seine Professur an der Universität verlor er allerdings.
Notnagel Zürich
In dieser, auch sozial sehr unsicheren Position kam Theodor Mommsen die Berufung durch den Zürcher Regierungsrat als Ordinarius für «Römisches Recht» an die Universität Zürich im Oktober 1851 sehr gelegen.
Mehr als nur eine Notlösung war das für Mommsen allerdings nie. Die Stadt war ihm zu klein, zu provinziell. Zürich hatte nur knapp ein Drittel so viele Einwohner wie Leipzig und auch ihre damals noch nicht zwanzig Jahre alte Universität hielt keinen Vergleich mit der dortigen aus. Gab es in Leipzig gut 900 Studenten, so waren es in Zürich etwa 150.
Meine Heimat will ich da nicht suchen
Äussert sich Mommsen in seinen Briefen an Freunde in Deutschland zunächst noch zurückhaltend über Zürich: «Die Leute kommen mir mit guter Meinung und mit grosser Herzlichkeit entgegen.» (Mommsen an Jahn, Briefwechsel, S. 492), so änderte sich das rasch. Mommsen fühlt sich in Zürich gar nicht wohl. Die Stadt, die Menschen, ihre Sprache blieben ihm fremd. Seine Kollegen, besonders jene, die wie er aus den deutschen Staaten emigrieren mussten, überzog er mit beissendem Spott. Als «von der politischen Springflut an diesen Strand geworfen» (Mommsen an Jahn, Briefwechsel, S. 494) bezeichnet er sie. Einen nannte er einen «elend schwachen Menschen, dessen Kümmerlichkeit dadurch nicht besser wird, dass er sich für einen politischen Märtyrer hält» ein Zweiter könne zwar «gut sprechen, aber er hat viele Bücher gelesen, die er nicht aufgeschnitten hat» und bei einem Dritten stöhnte er über «die Zumutung, ihm bei Tische zu begegnen, statt im Zuchthaus, wo er hingehört.» (Mommsen an Jahn, Briefwechsel, S. 494) Deren Unterwürfigkeit und Buhlen um die Gunst des zu dieser Zeit mächtigen Alfred Escher waren Mommsen zuwider.
Wenig Freude bereitete ihm auch seine Verpflichtungen als Hochschullehrer. «Kollegientrödel» nannte er sie. Und mit den Zürchern wurde Mommsen überhaupt nicht warm. Auch sie überzog er mit seinem Spott: «Ich führe ein böses Maul, nicht ohne Absicht. Tritt man die Eidgenossen nicht, so treten sie einen. Und da ist die Wahl nicht schwer.» (Mommsen an Jahn, Briefwechsel, S. 495) Selbst der Wein schmeckte ihm nicht, weil «zu ländlich und schändlich.
In seiner wissenschaftlichen Arbeit war Mommsen in seiner Zürcher Zeit allerdings sehr produktiv. Im Januar 1852 hielt er in der «Antiquarischen Gesellschaft» den Vortrag «Helvetien zur Zeit der Römer». Daraus wurde «Die Schweiz in römischer Zeit», ein Standardwerk zur Schweizer Geschichte. Und er begann an seiner «Römischen Geschichte» zu arbeiten, jenem Werk, das massgeblich zu Mommsens späterem Ruhm beitragen sollte.
Reinste Luft bei bester Küche
So unwohl Mommsen sich in Zürich fühlte, so wenig eigene Anstrengungen er zu seiner Integration unternahm, so sehr die verletzende Schärfe seiner Kritik ihn unter den Kollegen isolierte – eines schätzte er an der Schweiz: Die Berge. Für den norddeutschen Flachländer waren sie eine Offenbarung. So oft er es einrichten konnte, unternahm Mommsen lange Wanderungen, über die er dann in seinen Briefen schwärmte: «Unsere Rigifahrt war sehr herrlich, in der unvergleichlichen Gegend, der reinsten Luft und bei bester Küche … Ich könnte ein leidenschaftlicher Bergläufer werden.» (Mommsen an Jahn, Briefwechsel, S. 496)
«Könnte» – dieser Konjunktiv im Brief an seinen Freund Jahn ist vom Mommsen bewusst gewählt. Denn er will nicht in der Schweiz bleiben. Ständig hält er Kontakt zu seinen Freunden in Deutschland, klagt über seine Situation in Zürich, bringt sich in Erinnerung, mahnt bei ihnen mehr Einsatz für seine Rückkehr an eine renommierte deutsche Universität an.
1854 war es so weit. Mommsen wurde an die Universität Breslau berufen. «Akademische Personalfragen entschied der preussische Monarch und sein Kabinett nicht anhand politischer Dossiers.» (Rebenich, Biografie, S. 17) Und 1857 hatte Mommsen sein grosses Ziel erreicht: Eine Professur an der Berliner Universität.
Hier wurde er in den folgenden Jahren zum einflussreichsten Historiker Deutschlands, seine «Römische Geschichte» erschien in vielen Auflagen, er engagierte sich politisch, wurde als «Liberaler» in den deutschen Reichstag gewählt. Und als Heinrich von Treitschke 1874 den Aufsatz «Unsere Aussichten» mit den Sätzen: «Bis in die Kreise höchster Bildung hinauf … klingt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück» veröffentlichte, erkannte Mommsen sofort die Dimension dieser Attacke – «Treitschke nahm dem Antisemitismus den Kappzaun der Scham.» (Mommsen in: Der Berliner Antisemitismusstreit, Seite 307) – und stellte sich kompromisslos an die Spitze der Gegenbewegung: « Was heisst es, wenn Treitschke von unseren israelitischen Mitbürgern fordert, sie sollen Deutsche werden? Sie sind es ja, so gut wie er und ich.» (Mommsen, in: Der Berliner Antisemitismusstreit, S. 308) Und in gewohnter Bissigkeit fügt er hinzu: «Treitschke mag tugendhafter sein als sie, aber machen Tugenden den Deutschen?»
Eine späte und grosse Ehrung erfuhr Theodor Mommsen 1902. Die schwedische Akademie verlieh ihm als dem «grössten lebenden Meister der Kunst der historischen Darstellung» den Nobelpreis für Literatur. Und zwar für seine «Römischichte», jenem Werk, an dem Mommsen in seiner Zürcher Zeit so intensiv gearbeitet hatte.
Zürich und Mommsen – das war keine Liebesbeziehung. Eine Erklärung versucht sein Biograf Stefan Rebenich: «Der Schmerz, das Vaterland verloren zu haben, verdrängte die Dankbarkeit dem Zufluchtsort gegenüber.» (Rebenich, Theodor Mommsen, S. 127)
Der Mann des Jahrhunderts – Der Physiker Albert Einstein
1999 wählten 100 führende Wissenschaftler Albert Einstein zum «grössten Physiker aller Zeiten.»
Sieben Jahre und acht Monate an sechs verschiedenen war Einstein, so die Daten der «Einwohner- und Fremdenkontrolle der Stadt» in Zürich gemeldet. Und immer in Hottingen oder Fluntern: an der Klosbachstrasse 87, an der Dolderstrasse 17 oder an der Moussonstrasse 13.
Einstein – allfälligen Belehrungen zugänglich
1900 schloss Einstein sein Studium an der ETH ab. Da er, wie erhofft, in Zürich keine Assistentenstelle bekam, ging er 1902 als «technischer Experte 3. Klasse» an das Patentamt in Bern. 1905 verteidigte er seine Dissertation bei Prof. Alfred Kleiner an der Uni Zürich. Kleiner hatte schon sehr früh die überragende Qualität des jungen Physikers erkannt und setzte sich vehement für dessen Berufung an die Uni Zürich ein: «Einstein gehört gegenwärtig zu den bedeutendsten theoretischen Physikern und ist mit seinen Arbeiten über das Relativitätsproblem wohl ziemlich allgemein als solcher anerkannt … Ich habe die Überzeugung, dass Herr Dr. Einstein auch als Dozent seinen Mann stellen wird, weil er zu gescheit und zu gewissenhaft ist, um allfälligen Belehrungen nicht zugänglich zu sein.», so in seinem Gutachten vom 4.März 1909. Und Alfred Kleiner hatte Erfolg mit seinen Bemühungen. 1909 wird Albert Einstein zum «Extraordinarius» an der Universität Zürich ernannt.
Als Wohnsitz wählt die Familie Einstein, seit 1903 ist Einstein mit Mileva Maric verheiratet, wieder den unteren Zürichberg. Diesmal ist es die Moussonstrasse. Ein gutes Jahr später folgt Einstein einem Ruf an die Prager Universität. Auch die ETH bemüht sich jetzt um ihren inzwischen schon berühmten ehemaligen Studenten. Im August 1912 wird er zum Professor für theoretische Physik an der ETH ernannt. Die inzwischen vierköpfige Familie sucht eine Wohnung. Wieder am Zürichberg. Und sie stossen auf ein Inserat: «Vier- bis Sechszimmer-Wohnungen mit letztem Komfort zu vermieten an einmaliger Lage des Zürichberges. Schönstens möbliert. Interessenten wollen sich gefl. bei Besitzer melden: Telefon Hottingen 4883.» Billig sind die Wohnungen für die damalige Zeit nicht. Auf 700 Franken beläuft sich der monatliche Mietzins für eine Fünfzimmerwohnung. Aber die Einsteins sind interessiert. Es handelt sich um die gerade erbaute «Hofburg» an der Hofstrasse in Hottingen.
Elisabeth Meyer-Gentner, die Enkeltochter des Erbauers der Hofburg, Friedrich Gentner, schildert in ihrer «Geschichte eines Hauses am Zürichberg» aus der Sicht der Familie Gentner, wie sich das Leben der Einsteins in der «Hofburg» abgespielt haben könnte:
Die Einsteins
«Albert und Mileva Einstein spazieren, vom alten Kirchlein Fluntern her kommend, die Keltenstrasse aufwärts. Eben ist er an die Eidgenössische Technische Hochschule als Professor gewählt worden. An der Hofstrasse halten die Einsteins Ausschau nach dem eben vollendeten Bau des J.F. Gentner. «Schau Albert, da steht ja das Haus! Grossartig sieht es aus. Das Inserat versprach nicht zu viel: einmalige Lage. Weit besser als die Platte unten, wo wir als Studenten hausten?» Die beiden überqueren den grossen mit Kies und Sand bedeckten Platz und wollen durchs grosse, weisse Gartentor in den Hof eintreten. Ein Ruf der Begeisterung von Mileva: «Dreh dich um, Albert, schau da gegenüber, ein Bauernhaus! Da weiden ja Kühe.» …
Die Einsteins schreiten durch die sechs grossen Räume der Parterrewohnung. «Gut, Mileva, Platz haben wird! Hier studieren, da musizieren, nein umgekehrt, das grösste Zimmer zum Musizieren, für die Buben dann das sonnige Zimmer zum Hof hinaus. Der Nussbaum da in dem kleinen Vorgarten, der gefällt mir. Spendet Schatten, wenn wir beide über den Gleichungen schwitzen! Herr Gentner, die Wohnung ist gemietet. Gut, wöchentlich Lieferung der frischen Tisch- und Bettwäsche. Bist du zufrieden, Mileva? Wissen Sie Herr Gentner, meine Frau ist Mathematikerin, gescheiter als ich, keine Wäscherin.»
Albert Einstein und Grossvater Gentner unterschreiben den Mietvertrag. Er ist der erste im neugebauten Haus in der Hofburg.
«Halleluja! Bei uns Alten und beiden Bärchen grosse Freude. Ende Juli kommt der Zügelmann!» So zu lesen in einem Bericht des Physikers über seine Begeisterung, den Lehrstuhl in Prag und die Wohnung an der Tràbizského ulice 125 mit dem Lehrstuhl an der ETH Zürich und der Wohnung an der Hofstrasse 116 tauschen zu können.
Zu den Professoren, die Einsteins Wahl zum Lehrer für Wahl zum Lehrer für theoretische Physik unterstützten, gehört auch Marie Curie, Nobelpreisträgerin von 1903 und seit 1908, als erste Frau, Professorin für Physik an der Sorbonne. Man wird sie bei den Einsteins in der Parterrewohnung Hofstrase 116 ebenso antreffen wie den damals 26 jährigen Auguste Piccard oder Max Planck, den Begründer der Quantenphysik. Die Gespräche im hinteren Salon, im Musikzimmer, über die Eroberung der Stratosphäre, die Relativitätstheorie, über die Entdeckung des Radiums bringen eine Gedankenwelt ins neu erbaute Haus des Grossvaters, von welcher der nicht die leistete Ahnung hat.
An etwas anderem können die anderen Bewohner der Hofburg, wenn auch nur indirekt, teilhaben: Bei den Einsteins wird musiziert. An den Herbstabenden klingt Geigenspiel in den Garten hinaus. Carola Gentner, die Tochter des Hausbesitzers, selbst leidliche Geigerin, schleicht sich durch den Hof, stellt sich unter die geöffneten Parterrefenster und lauscht: Bachs Solosonaten! Bachs Doppelkonzert für zwei Violinen. Die Professorentochter Lisbeth Hurwitz spielt die zweite Violine…
Des Physikers Ruf dringt in die Welt hinaus. Max Planck holt ihn an die «Preussische Akademie der Wissenschaften» nach Berlin. Im April 1914 verlassen die Einsteins die ”¹Hofburg”º» … (Meyer Gentner, Die Hofburg, S. 47) Es waren jene Jahre in Zürich, in denen der geniale Physiker seinen Weltruf als Wissenschaftler begründete. So idyllisch wie Elisabeth Meyer-Genter das Familienleben der Einsteins in der «Hofburg» schildert, war es allerdings nicht. Seit 1912 hatte Albert Einstein ein Verhältnis mit seiner Cousine Elsa. Zwar zog Mileva mit den beiden Kindern nach Einsteins Berufung an die «Preussische Akademie der Wissenschaften» zunächst mit nach Berlin, aber eigentlich war die Ehe zwischen Mileva Maric und Albert Einstein damals schon nicht mehr existent. Um den Schein zu wahren, verpflichtet Einstein Mileva in einem Brief vom 18. Juli 1914 zu folgenden Regeln:
A) Du sorgst dafür
1. dass meine Kleider und Wäsche ordentlich im Stand gehalten werden.
2. dass ich die drei Mahlzeiten im Zimmer ordnungsgemäß vorgesetzt bekomme.
3. dass mein Schlaf- und Arbeitszimmer stets in guter Ordnung gehalten sind, insbesondere dass der Schreibtisch mir allein zur Verfügung steht.
B) Du verzichtest auf alle persönlichen Beziehungen zu mir, soweit deren Aufrechterhaltung aus gesellschaftlichen Gründen nicht unbedingt geboten ist. Insbesondere verzichtest Du darauf
1. dass ich zuhause bei Dir sitze.
2. dass ich zusammen mit Dir ausgehe oder verreise.
C) Du verpflichtest Dich ausdrücklich, im Verkehr mit mir folgende Punkte zu beachten:
1. Du hast weder Zärtlichkeiten von mir zu erwarten noch mir irgendwelche Vorwürfe zu machen.
2. Du hast eine an mich gerichtete Rede sofort zu sistieren, wenn ich darum ersuche.
3. Du hast mein Schlaf- bzw. Arbeitszimmer sofort ohne Widerrede zu verlassen, wenn ich darum ersuche.
D) Du verpflichtest Dich, weder durch Worte noch durch Handlungen mich in den Augen meiner Kinder herabzusetzen.
(Albert Einstein an Milena Einstein, 15.4.1914)
1915 kehrt Mileva mit den beiden Kindern aus dem «verhassten Berlin» nach Zürich zurück. Albert Einstein kommt 1919 nur noch einmal für einige Wochen nach Zürich: um Vorlesungen an der Uni zu halten und um sich von Mileva scheiden zu lassen. Als Unterkunft wählt er die Pension «Sternwarte» an der Hochstrasse in Fluntern.
Zwischen Parfum und Partisanen – Der Chemiker Leopold Ruticka
Jahrzehnte lebte er an der Freudenbergstrasse. Sein Garten war berühmt. Haus und Garten sind längst einer Überbauung gewichen. Nichts erinnert mehr an Leopold Ruzicka: Nobelpreisträger, Rosenzüchter und Kunstmäzen. Immerhin soll demnächst an der ETH Hönggerberg eine Strasse nach ihm benannt werden.
Mitte Januar 1940 herrschte klirrende Kälte in Europa. Meteorologisch wie politisch war es eine Zeit zum Schaudern. Seit dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 wurde an diversen Orten rund um die Welt gekämpft. Die Reisemöglichkeiten waren stark eingeschränkt. So konnte für einmal keine zentrale Nobelpreisfeier in Stockholm stattfinden. Die Preise wurden stattdessen in den jeweiligen Heimatländern der Geehrten übergeben. Die Feierlichkeiten für Leopold Ruzicka fanden am Vormittag des 16. Januar 1940 in der Aula der ETH statt, wo der schwedische Botschafter als Vertreter des Königs Medaille und Diplom übergab. Auf Einladung des Schulratspräsidenten trafen sich die Gäste danach im Restaurant Huguenin an der Bahnhofstrasse zu einem Mittagessen. …
Der Zürcher Chemiker erhielt die Auszeichnung für seine Arbeiten über Polymethylene und Terpene. Hinter den chemischen Namen verbergen sich Riechstoffe, die in der Natur von Pflanzen und Tieren produziert werden. Ruzicka konnte ihre Strukturen aufklären und Synthesewege finden: für die Wissenschaft wichtig und für die Parfümindustrie lukrativ. Die traditionelle Dankesrede des Preisträgers in der Aula der ETH bot Ruzicka die Gelegenheit, auf seinen bisherigen Lebensweg zurückzublicken. Er sah sich selbst als einen «jungen Chemiebeflissenen vor über 30 Jahren, dessen Weg von Kroatien schliesslich in die Schweiz führte, wo er, ohne sein Geburtsland zu vergessen, eine ihm lieb gewordene neue Heimat fand».
Vom Nutzen der Kakerlaken
Tatsächlich blieb Leopold Ruzicka sein Leben lang mit seinem Herkunftsland verbunden. Schon seine erste in Zürich abgeschlossene Arbeit wurde davon bestimmt. Sein akademischer Lehrer Hermann Staudinger hatte ihm nämlich die Analyse des «Dalmatinischen Insektenpulvers» vorgeschlagen. Ruzicka war 1887 in dem damals noch zum Habsburgerreich gehörigen Städtchen Vukovar geboren. Er konnte das Ausgangsmaterial des Pulvers, die Blüten einer Chrysanthemenart, über seine Verwandten in Dalmatien beziehen. Staudinger und Ruzicka bestimmten darin erstmals die Wirkstoffe des Insektengifts Pyrethrum, das heute noch zu den wichtigsten biologischen Schädlingsbekämpfungsmitteln gehört. Als Versuchstiere dienten Kakerlaken, in der Schweiz auch «Schwabenkäfer » genannt. Nach einer Chemikerlegende sollen sich ihre Nachkommen noch Jahrzehnte später in den Kellergewölben des ETH-Chemiegebäudes getummelt haben.
Hermann Staudinger hatte Ruzicka auch nach Zürich gebracht. Er war sein Doktorvater an der Technischen Hochschule Karlsruhe gewesen und nahm den begabten und fleissigen Jungforscher als Assistenten mit an die ETH, als er hier 1912 die Professur für Allgemeine Chemie erhielt. Doch die Beziehung zum dominanten Staudinger ging in die Brüche, als Ruzicka 1916 für seine Habilitation ein eigenes Forschungsgebiet wählte. Er verlor seine Assistentenstelle und brauchte nun eine neue Einnahmequelle. …
Edle Düfte
Die Rettung kam durch die Zusammenarbeit mit der Industrie. Nach Versuchen mit verschiedenen Firmen, die Riechstoffe herstellten, fand Ruzicka 1921 einen verlässlichen Partner in Naef & Cie. in Genf, jetzt bekannt als «Firmenich». Die in der Parfümindustrie verwendeten kostbaren Geruchsstoffe der Zibetkatze und des Moschushirschen wurden von ihm untersucht, und es gelang ihm, ihre chemische Struktur aufzuklären. Er fand dabei eine wissenschaftliche Sensation: Kohlenstoffverbindungen mit Ringen von bis zu 17 Gliedern! Dies hatte man vorher nicht für möglich gehalten. Auch ihre Synthese gelang ihm, sodass die Stoffe nun günstig industriell hergestellt werden konnten. Durch diese Erfolge wurde Ruzickas Name in der Fachwelt immer bekannter. …
1927 nahm Leopold Ruzicka einen Ruf an die Universität Utrecht an. Es wurde ein kurzes Gastspiel in Holland. Bereits zwei Jahre später würde er an die ETH in Zürich berufen. …
Akademische Freiheit – mehr arbeiten als vorgeschrieben
Mit Leopold Ruzicka wurde 1929 der erste Schweizer auf den Chemie-Lehrstuhl der ETH seit ihrer Gründung 1855 gewählt. Er hatte sich 1918 in Zürich einbürgern lassen, und er war im Gegensatz zu seinen Vorgängern auch entschlossen, in Zürich zu bleiben. Deshalb kaufte er nach der Wahl als Erstes ein Stück Land an der Freudenbergstrasse 101 und baute darauf ein Haus, umgeben von einem grossen Garten.
Ruzickas Talent und Arbeitseifer waren überdurchschnittlich – er formulierte später den Leitspruch: «Die akademische Freiheit besteht darin, dass man viel mehr als vorgeschrieben arbeiten darf.»
«Rutsch», wie ihn die Studenten nannten, war seinem Fachgebiet völlig ergeben. Im Laboratorium wirkte der klein gewachsene, energische Forscher als emsiger und geschickter Experimentator und wurde so zum anspornenden Vorbild
Im Chemischen Laboratorium wurde auf sein Betreiben hin ebenfalls kräftig investiert, um die in die Jahre gekommene Infrastruktur zu erneuern. Es folgten zehn Jahre intensiver und erfolgreicher Forschung. Nun zeigte sich, dass die Forschungserfahrung in der Industrie Ruzicka sehr hilfreich war. Ihm gelang die Strukturaufklärung vieler komplizierter Naturstoffe, darunter auch der Steroide. Die männlichen Sexualhormone Androsteron und Testosteron konnte er auch synthetisieren. 1939 wurde Ruzicka für seine Leistungen mit dem Nobelpreis belohnt.
Der Patriot
Während des Zweiten Weltkriegs setzte sich der Chemiker sowohl für seine Heimat wie für sein Geburtsland tatkräftig ein. In der Schweizer Armee diente er zwei Jahre lang als Luftschutz-Leutnant. Immer wieder half er Flüchtlingen. Am Technikum Winterthur gab er Chemieunterricht für internierte polnische Studenten. Und er unterstützte die kommunistischen Partisanen auf dem Balkan, die unter Josip Broz Tito gegen die deutschen und italienischen Besatzer kämpften. Ruzicka gründete dafür das Jugoslawisch-Schweizerische Hilfskomitee. …. Der später zum Staatschef gewählte Marschall Tito dankte ihm dafür mit persönlicher Freundschaft und einem Orden. …
Der Mäzen
Kurz nach dem Krieg stiegen die Studentenzahlen an der ETH steil an, Chemie wurde ein gefragtes Studienfach. Doch Ruzicka beschränkte sich für einige Zeit auf die administrative Leitung. Kurz nach dem Krieg hatte er mit den Einkünften aus amerikanischen Hormon-Patentlizenzen eine Stiftung gegründet, mit deren Hilfe er eine exquisite Sammlung holländischer Malerei anlegte. Leopold Ruzicka wurde zum Kunstkenner; die Werke schenkte er dem Kunsthaus Zürich. …
Der Rosenzüchter von der Freudenbergstrasse
Im Jahr 1957 trat Leopold Ruzicka von seinem Amt zurück. Doch es blieb ihm noch viel zu tun. In seinem sonnigen Gartengelände an der Freudenbergstrasse 101 hegte er zahlreiche alpine Pflanzen. Auch die Rosen liebte Ruzicka, dessen Name im Tschechischen «Röschen» bedeutet, und fotografierte sie gern. Sich selbst bezeichnete Leopold Ruzicka einmal als eine dornenlose Rosensorte. Das ist wohl etwas untertrieben: Der selbstbewusste Professor hatte ein gutes Gefühl für die Macht. Er beteiligte sich auch immer an den Nominationen für den Nobelpreis, und nur zwei der von ihm vorgeschlagenen Chemiker haben den Preis schliesslich nicht erhalten.
Martin Kreutzberg
Margrit Wyder
Mit Dank an Verena E. Müller