Regula Engel — Mutter Courage von Fluntern
1793. Beliebt bei der Bevölkerung von Paris sind sie nicht: die Schweizer Soldaten des Söldnerregiments von Diesbach. Zu nah ist noch die Erinnerung an den Sturm auf die Tuilerien am 10. August 1792, der – verteidigt von Schweizer Gardisten – in einem Gemetzel endete. Auf offener Strasse wird der Leutnant Engel, kenntlich an seiner roten Uniform, arretiert. An der Macht sind die Jakobiner und die pflegen kurzen Prozess mit ihren Gegnern zu machen. Da eilt Regula, die Frau des Schweizer Leutnants, «an jeder Hand einen meiner Knaben führend» mit einer Bittschrift zu Maximilien Robespierre: «Als ich vor ihm niederfiel, fasste ich trostlos meine beiden Knaben in die Arme und, die schreckliche Guillotine im Gedächtnis, konnte ich nichts anderes hervorbringen als: ‹Citoyen, miséricorde!›. ‹Leve-toi!›, sagte er … ergriff eine Karte und schrieb mit Bleistift nur wenige Worte darauf. ‹Va›, sagte er ‹porte cela au Clubb des Jacobins, ton mari est libre.›» (Engel, 1992, S. 36) Wahrscheinlich nicht ganz uneigennützig, diese Entscheidung des Robespierre, denn auch die junge Republik braucht Experten für ihre Armee. Der Schweizer Leutnant Engel wird in die französische Armee übernommen und zum Hauptmann befördert. Trotzdem: Eine mutige Tat einer aussergewöhnlichen Frau, die sich nie mit der Rolle einer Ehefrau und Mutter zufrieden gab.Von Fluntern nach Berlin
Regulas Eltern Katharina und Heinrich lernen sich in Berlin Friedrichs II. kennen. Beide stammen von Fluntern, wo ihr Stammhaus am Susenberg lag. Er, Sergeant-Major in der Leibgarde des Preussenkönigs, sie Hoffräulein beim Feldmarschall von Schwerin. Sie heiraten. Doch dann beginnt der siebenjährige Krieg. Heinrich Egli muss mit der Leibgarde auf die Schlachtfelder, wird verwundet, desertiert und kehrt zurück in die Schweiz, nach Zürich. Dort sind die Fähigkeiten des ehemaligen Sergeant-Majors des Preussenkönigs gefragt: «Die jungen Herren in Zürich lernten bei ihm exercieren … Auch musste er viel auf Landmusterungen, wobei sich die Bauern sehr vor ihm fürchteten, denn er war streng und sehr grob im Dienst, und wenn er kommandierte, so war es, als ob die Erde zittern müsste.» (Engel, 1992, S.15)
Katharina Egli folgt ihrem Mann nach Zürich. Hier wird 1761 die Tochter Regula geboren. Doch die Ehe scheitert, wird geschieden und Tochter Regula, wie damals üblich, dem Vater zugesprochen. Der heiratet wieder und Regula bekommt eine Stiefmutter, eine böse, eine «Furie» nennt sie sie. Regula hält es nicht aus, läuft davon, allein, zu Fuss, ohne Geld nach Chur zu ihrer Mutter. Sie, das ehemalige «preussische Hoffräulein», ist dort «durchaus wohlgelitten und in allen Gesellschaften zugelassen.» 1778, Regula ist 17 Jahre alt, lernt sie in Zizers «einen schönen grossen Mann kennen, den seine Uniform sehr wohl kleidete» (Engel, 1992, S. 27): Florian Engel, Sergeant im Regiment von Diesbach, einer der damals im von Kriegen geschüttelten Europa sehr gefragten Schweizer Söldnertruppe. Sie heiraten und Regula folgt ihrem Mann zum Regiment, zieht mit ihm von Garnison zu Garnison, von Strasbourg nach Korsika, nach Lille, nach Arras. 1779 kommt ihr erstes Kind auf die Welt, Johann Baptist, dessen Pate Prinz Max von Baden, der spätere König von Bayern, wird und dann jedes Jahr ein neues. 1793 in Paris sind es bereits 13 Kinder, von denen noch acht leben.
Napoleon treu ergeben
Nach der Rettung durch seine Frau 1793 kommt der Hauptmann Engel zur Italienarmee des Napoleon Bonaparte. Napoleon bleiben die Eheleute Engel mit ihrer ganzen Familie treu, ein Leben lang: Vom Aufstieg bis zum Untergang. Sie ziehen mit ihm über die Schlachtfelder Europas. Selbst nach Ägypten gehen sie mit ihm. Dort werden Zwillinge geboren, die auf die Namen Napoleon Johann Baptist und Napoleon Heinrich getauft werden, Paten sind Napoleon und sein General Kléber, folgen Bonaparte nach dem desaströsen Ende des Ägyptenfeldzugs, in dem Regula erstmals in Offiziersuniform selbst aktiv wird, nach Italien.
In der Schlacht gegen die Österreicher bei Marengo im Juni 1800 sterben Regula Engels älteste Söhne Johann Baptist und Rudolf. Als ihr Mann in Kriegsgefangenschaft gerät, geht Regula nach Zürich und versucht sich eine «bürgerliche Existenz» aufzubauen: Sie eröffnet einen Kramladen – allerdings nicht sehr erfolgreich, daher «Adieu Kaufmannschaft!», «Adieu bürgerliches Leben».
Das aufregende doch rastlose Militärleben geht weiter. Engel, durch Austausch aus der Kriegsgefangenschaft befreit und zum Regimentskommandeur befördert, ist bei Napoleons Krönung zum «Oberhaupt des Königreichs Italien» in Mailand dabei, Regula beim Einzug des Kaisers in Wien. 1805 bei in der Schlacht von Austerlitz kämpft sie selber mit, wird durch einen Säbelhieb am Kopf verletzt. In Böhmen bringt sie den Sohn Joseph auf die Welt. Sie ist 1807 – wieder in Offiziersuniform – bei Napoleons Sieg über die Russen bei Eylau dabei, geht von dort quer durch den Kontinent mit nach Spanien, wo ihr Sohn Conrad «gefangen und auf eine barbarische Weise ermordet» wird, gerät 1809 bei Regensburg mit ihrem Mann in Kriegsgefangenschaft, Kind Nummer zwanzig wird geboren, was sie in ihren Erinnerungen lapidar kommentiert: «Dergleichen Geschenke machte ich meinem Manne bisweilen, wenn wir auf Reisen waren». (Engel, 1992, Seite 86)
Florian Engel, der Ehemann, ist inzwischen von Napoleon zum Oberst befördert worden. Und Regula, die Frau Oberst, reist nach Wien, wo sie, wie sie es in ihren Memoiren schildert, Marschall Masséna trifft, jenen Marschall nach dem die Fluntermer «Masséna-Strasse» im Zürichbergwald benannt ist. Frau Oberst Engel wird offizielle Brautbegleiterin für die österreichische Kaisertochter Marie-Louise, künftige Gattin Napoleons und französische Kaiserin. Als sie, fünfzigjährig, ihr letztes Kind Marie Louise zur Welt bringt, sind Kaiser und Kaiserin Götti und Gotte. Die Bande zwischen den Engels und Bonapartes bleiben eng. Bei der Völkerschlacht bei Leipzig ist Regula Engel wieder selbst an der Front, ihr Schwiegersohn General Perrier fällt. Auf dem Rückzug, in Strasbourg, stirbt Tochter Marie Louise. Nach Napoleons Absetzung 1814 folgen Regula und Florian Engel mit den Kindern Napoleon in die Verbannung nach Elba, sind beim «Triumphzug» Napoleons zurück an die Macht dabei, bis zu dessen endgültiger Niederlage 1815: In der Schlacht bei Waterloo sterben ihr Mann und ihre Söhne Florian und Joseph, sie selbst wird mehrfach verwundet.
Auf der Suche nach ihren Kindern
Mit Napoleons Untergang verdüstert sich auch ihr weiteres Schicksal. Von ihren 21 Kindern leben nur noch fünf. Die beiden in Ägypten geborenen Zwillinge Baptist und Heinrich folgen Napoleon nach St. Helena ins Exil. In Lyon stirbt Tochter Nanette.
Auf der Suche nach ihren noch lebenden Söhnen reist Regula Engel nach Amerika. In New Orleans findet sie den schwerkranken Caspar, der in ihren Armen an Gelbfieber stirbt. 1819 erbittet sie in London die Erlaubnis, auf St. Helena ihre beiden Söhne Johann Baptist und Heinrich besuchen zu dürfen: «… ich liess eine allerehrbietigste Bittschrift an S.K.H. den Prinzregenten verfertigen … sie kostete mich ungefähr 4¼ Louisdor». (Engel, 1992, S.163) Im Unterschied zu ihrer Bittschrift an Robespierre 1793 fällt die Antwort des englischen Prinzregenten negativ aus: Der «Bittstellerin» wird untersagt, ihre Söhne auf St. Helena besuchen zu dürfen.
1823 kehrt Regula Engel in die Schweiz zurück in die Schweiz. 1844 wird sie in Zürich ins Spital (Altersheim) im ehemaligen Predigerkloster aufgenommen (heute Standort der Zentralbibliothek). Am 25. Juni 1853 stirbt Regula Engel-Egli. «Sie war Mutter von 21 Kindern und schloss zuletzt ihr vielbewegtes Leben 92 Jahre alt im hiesigen Spital» (aus einem Nachruf).
Ihre Lebenserinnerungen veröffentlichte sie 1821 als «Lebensbeschreibung der Wittwe des Obrist Florian Engel von Langwies». 1893 ehrte die Stadt Zürich Regula Engel-Egli mit der «Engel-Strasse» zwischen Bäckeranlage und Badenerstrasse in Aussersihl.
Lorenzo Käser / Martin Kreutzberg