Mit der Titanic versunken — Industriestandort Fluntern

Fluntern als ein ehemals umtriebiges Studentenquartier, als Wohnort grosser Geister wie Albert Einstein, Johannes Brahms, Rosa Luxemburg oder Frank Wedekind, aber auch als ein Vergnügungsort, als um 1900 ganz Zürich in das Plattentheater pilgerte und sich dort an «Völkerschauen» wie der «Somali-Carawane» oder bei «Krao, das Affenmädchen aus Siam» amüsierte – all das ist mehr oder weniger gut bekannt. Fluntern als Industriestandort, von dem aus die Welt beliefert wurde, dagegen gar nicht. Und doch war es das vor gut 100 Jahren.

Der Daniel Düsentrieb von Fluntern
Zu verdanken ist dies Martin Fischer. 1867 geboren gibt er im Adressbuch der Stadt Zürich seinen Beruf mit «Uhrmacher» an. Das war er sicher auch – zugleich aber ein genialer Tüftler und Erfinder. Über 60 Patente wurden unter seinem Namen registriert. Die Palette reicht von einem «automatischen Signalbriefkasten» von 1898, über ein «Differentialgetriebe für Motorwagen» (1905), einem «Wechselgetriebe für Motorwagen» (1911) oder einer «Pneumatischen Uhrenanlage». 1929 beantragte er ein Patent für eine «Zigarette mit einer Abbrenngrenze, durch welche das Weiterglimmen über jene Grenze hinaus und damit die lästige Rauchentwicklung verhindert wird.» (Patent CH142429A vom 17.12.1929)
Martin Fischers Faszination gehörte aber vor allem dem neuen Verkehrsmittel, dem Automobil. Sein «Turicum», wie er seinen Wagen als Referenz an seine Heimatstadt nannte, erregte auf den Automobilausstellungen von Paris oder Berlin grosses Aufsehen. Und produziert wurden die ersten Wagen in Fluntern, in der ehemaligen Kegelbahn des Gasthauses «Platte», später dann, als mehr Platz benötigt wurde, zog man nach Uster.
Ein ökonomischer Erfolg wurde der «Turicum» allerdings nicht. Als 1906 auf der Automobilausstellung in Berlin 50 seiner Wagen bestellt wurden, verzögerte Martin Fischer die Auslieferung, weil er ständig seine neuesten Verbesserungen eingebaut haben wollte. Die Bestellung wurde schliesslich annulliert.
Ein Finanzgenie war Martin Fischer sicher nicht.

Fluntern und die Welt
Eine Erfindung von Martin Fischer allerdings ging um die Welt.
1899 war ihm das Patent für eine «elektrische Uhrenanlage ohne Batterie» erteilt worden. Über eine mechanische Hauptuhr konnten durch elektro-magnetische Impulse beliebig viele Nebenuhren gesteuert werden. Für die damals in aller Welt geradezu aus dem Boden schiessenden Hotels, Bahnhöfe oder Verwaltungsgebäude bestens geeignet.
1901 wurde zur Produktion die «Magneta AG» gegründet. Und am 2. Dezember 1903 erteilte die «Direktion für Volkswirtschaft, Abt. Fabrikwesen» der Magneta AG die Betriebsbewilligung für die Produktionsräume in der Plattenstrasse 13 in Fluntern. Eine der Auflagen: «Der Abort soll nur für die weiblichen Arbeiter reserviert bleiben.» – ein frühes Zeichen der Wertschätzung von Frauenarbeit.
Am 30. Oktober 1908 konstatierte ein «Polizeikommissär» der Zürcher Stadtpolizei «anlässlich eines Kontrollganges, dass die Uhrenfabrik Magneta AG an der Plattenstrasse ausgeräumt ist … .» Schon damals muss es vorgekommen sein, dass die verschiedenen Verwaltungen von Zürich nicht optimal kommunizierten. Denn bereits gut zwei Jahre vorher hatte das «Bauwesen der Stadt Zürich» bestätigt, dass die Magneta AG den «Maschinen- und Akkumulatorenraum im Depot Fluntern» an der Hochstrasse gemietet hatte.
Ursächlich für den Umzug der «Magneta AG» von der Plattenstrasse hinauf ins ehemalige Tramdepot der «Zentralen Zürichberg-Bahn» am Vorderberg war die grosse Nachfrage nach ihren Uhrenanlagen. Die Produktionsräume an der Plattenstrasse wurden zu klein für die aufstrebende Firma. Denn die Magnetauhren waren in wirklich aller Welt gefragt.
Uhren «Made in Fluntern» wurden im Stadthaus Zürich, im Bundeshaus Bern, im Quartier Plainpalais in Genf, im Kloster Einsiedeln, am Bahnhof Zoo in Berlin, in der Union Station in Washington DC, im Casino von Monte Carlo, im «Plaza» und im «St. Regis» in New York oder im «Waldhaus» in Sils installiert. Auch der «Tagesanzeiger», die «Kronenhalle» am Bellevue und selbst die Kirchenpflege in Fluntern entschieden sich für «Magnetauhren».
Offensichtlich, wie die Referenzschreiben aus der ganzen Welt belegen, funktionierten sie zur vollen Zufriedenheit der Nutzer: «Das Prachthotel St. Regis in New York, dessen Bau 40 Millionen Franken kostete, hat eine zürcherische Erfindung in vorteilhaftester Weise in Amerika eingeführt. Die Aktiengesellschaft Magneta in Fluntern hat daselbst in 16 Etagen etwa 500 Nebenuhren verschiedenster Art erstellt. … Der Manager des Hotels hat in begeisterten Ausdrücken die Einfachheit und tadellose Funktion der Gesamtanlage gepriesen.» (Zürcher Wochenchronik, 24.9.1904)
Ohne Tadel funktionierten die Uhren aus Fluntern allerdings nicht immer. Im November 1907 logierte Enrico Caruso während seines Gastspiels an der «Metropolitan Opera» im Hotel «Plaza» in New York. Den empfindsamen Künstler störte das Ticken der Nebenuhr in seiner Suite. Kurzentschlossen unterbrach er den Kontakt. Mit Folgen für sämtliche Uhren im «Plaza» …

Fluntern geht unter
Am 2. April 1912 stellte die Reederei «White Star Line» das damals grösste und komfortabelste Passagierschiff in Dienst – die «Titanic». Ausgestattet mit zwei Marinehaupt- und 48 Nebenuhren aus Fluntern. Am 14. April 1912 stiess die «Titanic» mit einem Eisberg zusammen und versank. Seit dem liegt sie auf dem Grund des Nordatlantiks und mit ihr die Uhren aus Fluntern.
1917 wurde die «Magneta AG» an die «Schweizerische Magneta AG» verkauft. Dort stieg im September 1919 Karl Heinz Gyr ein. Und die «Magneta» zog von Fluntern nach Zug, wurde Teil von «Landis und Gyr»: «Man sah bei den technischen Vorzügen des Systems, das später «Indukta» genannt wurde, geschäftliche Chancen, wenn das Unternehmen richtig geleitet wurde … » (Mattias Wissmann, Pioniere, Zürich 2012, S. 55)
Martin Fischer, der Erfinder, war dann schon lange nicht mehr dabei. Er tüftelte unentwegt weiter. 1935 bekam er das Patent für einen lenkbaren Stehschlitten, «der auch weniger geübten Personen ermöglichen soll, sich leicht und mühelos auf dem Schnee fortzubewegen.» (Patent CH 183712A vom 15.12.1935)
1947 starb Martin Fischer. In Fluntern erinnert nichts mehr an ihn.
Am «Industriestandort Fluntern» befinden sich heute Alterswohnungen der Stadt Zürich.

Martin Kreutzberg

Mit Dank an Niklaus Maag, der sehr Vieles über Uhren weiss.