Menschen die uns viel geben — das Wohnheim Zürichberg

Es ist wunderschön gelegen, am oberen Ende der Zürichbergstrasse, das alte Backsteingebäude mit seinem grossen Garten. Das Tor zum Gelände steht immer offen. Am Eingang ein kleines Schild: Wohnheim Zürichberg. Wenige wissen, wer dort wohnt. Und doch ist es eine Fluntermer Institution mit einer 125 jährigen wechselvollen Geschichte.

«Im Sommer 1887 erschien», so die NZZ fünfzig Jahre später, «der Landwirt Hofmann-Gut beim Pfarrer an der Kirche zum Prediger, Walter Bion, und machte diesem einen aussergewöhnlichen Vorschlag. Er wolle ihm an der oberen Zürichbergstrasse – heute unbezahlbar – eine Jucharte Land schenkungsweise zur Verfügung stellen.» Einzige Bedingung: Es müsse einem wohltätigen Zweck dienen.
Pfarrer Walter Bion wusste, was Zürich fehlte: Ein Erholungsheim für «minderbemittelte, rekonvaleszente Männer und Frauen, die eine Kräftigung in guter Luft» nötig hatten. Zusammen mit seinem Freund Caspar Appenzeller trieb er das Geld dafür auf und bereits 1889 konnte das «Erholungsheim Zürich – Fluntern» seinen Betrieb aufnehmen.
Das war zu jener Zeit, als an den Hängen des Zürichbergs – «in guter Luft «– gleich mehrere ähnlicher Einrichtungen entstanden: 1890 bauten die «innovativen Bürgersfrauen» vom «Zürcher Frauenverein für alkoholfreie Wirtschaften» ihr Hotel «Zürichberg» – drei Franken kostete damals die Übernachtung mit Vollpension –, 1891wurde der «Verein für Volksgesundheitspflege und Naturheilkunde» – heute «Verein für Volksgesundheit Zürich (VGZ) – gegründet und 1904 eröffnete Bircher-Benner sein «Sanatorium Lebendige Kraft». Das allerdings richtete sich schon von Beginn eher an eine prominente und zahlungskräftige Klientel.
Während das «Hotel Zürichberg» heute zur oberen Preiskategorie gehört, Bircher-Benners «Lebendige Kraft» in den Besitz einer Versicherung übergegangen ist, dient das «Erholungsheim Zürich – Fluntern» noch immer seiner ursprünglichen sozialen Bestimmung. Allerdings mit neuem Namen und einer grundsätzlichen anderen Ausrichtung.

Es ist verboten, aus den Fenstern zu spucken
Ursprünglich hatte das «Erholungsheim Zürich-Fluntern» zwei Funktionen: Neben der «Erholung Minderbemittelter» diente es als Anstalt zur «Ausbildung einer Anzahl von Mädchen – auch ‹gefallener› – … zu Dienstboten und tüchtigen Hausfrauen.» Entsprechend streng war die Hausordnung im Heim: «Der Verkehr mit den Besuchenden darf nicht in den Schlafzimmern stattfinden» (§1), «Es ist verboten, aus den Fenstern zu spucken» (§3) oder «Erholungsbedürftige und Dienstboten haben sich in Allem ohne Weiteres den Befehlen der Verwalterin zu fügen» (§4)
Beide Funktionen haben sich längst überholt. «Gefallene Mädchen» gibt es nicht mehr und auch «Minderbemittelte» erwarten heute zwecks Erholung mehr Komfort als den eines kargen Fünfbettzimmers. Da es dem ursprünglichen Trägerverein «Erholungshaus Zürich – Fluntern» allerdings immer noch ein Anliegen war, dass das Haus weiterhin einem sozialen Auftrag dienen konnte, 1991 schenkte er es deshalb dem «Verein Zürcher Eingliederung», der unter anderem das «Vier Linden» am Hottingerplatz betreibt. Dieser baute es zum «Wohnheim Zürichberg» um. Heute leben hier Menschen mit geistiger Behinderung.

Für 80 Rappen am Tag
Finanziert wird das «Wohnheim Zürichberg» über Beiträge des Kantons und nach wie vor durch Spenden.
Beides hat Tradition wie aus einem Bericht der Zürcher Wochenchronik vom 12. April 1902 hervorgeht: «Da der Aufenthalt eines Rekonvaleszenten pro Tag zwei Franken und 23 Rappen kostet, die von diesen zu zahlende Tagestaxe jedoch nur 80 Rappen beträgt, bedarf die Anstalt fortwährender bedeutender Unterstützung vonseiten der Behörden und wohltätiger Privaten. Erstere wird von der Regierung des Kantons Zürich mit einem jährlichen Beitrag von 10000 Franken geleistet...» So neu ist staatliches soziales Engagement also nicht. Der permanente Kampf darum allerdings auch nicht. Die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich bedauerte 1923 zwar «aufrichtig die massive Kostgelderhöhung» und «hätte ganz entschieden dagegen Stellung genommen, wenn uns der Kantonsrat nicht die Möglichkeit dazu genommen hätte …» (Brief der Gesundheitsdirektion vom 16. März 1923 an die Vorsteherschaft des Erholungshaues Zürich-Fluntern)

Unglaubliche soziale Fähigkeiten
Vor noch gar nicht so lange zurückliegender Zeit waren Menschen mit einer kognitiven Behinderung Objekte der Betreuung, nannte man sie in den Heimen «Insassen», «und die Umgebung wusste», so Helen Baumann, die Leiterin des Wohnheims Zürichberg, «was für diese Menschen gut ist.» Diese Sicht hat sich grundlegend geändert. Für Helen Baumann sind es Menschen, die sich «dem Zeitschema des ‹mehr›, ‹schneller›, ‹reicher› entziehen», aber zugleich «… unglaubliche soziale Fähigkeiten haben.»

Menschen, die uns viel geben
Grosser Wert wird im «Wohnheim Zürichberg» auf eine ganzheitliche Betreuung gelegt. Es bietet seinen Bewohner/innen nicht nur Wohn- und Lebensräume, sondern in verschiedenen Bereichen und Ateliers auch Arbeitsplätze. «Im Wohnen und bei der Arbeit versuchen wir den Bedürfnissen der Bewohner/innen Raum zu geben und sie individuell zu fördern – so ist es im Leitbild des «Wohnheims Zürichberg» festgehalten.
Helen Baumann drückt es ganz einfach aus. Für sie sind die Bewohner_innen «Menschen, die der Welt positiv gegenüber stehen. Sie geben uns viel …»

Martin Kreutzberg