Frei Haus — Die Milchtour am oberen Zürichberg
Milch war neben Brot und Butter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das häufigste Nahrungsmittel in der Schweiz. 1937 machten die Ausgaben für Milch und Milchprodukte einen Viertel der Ausgaben für Lebensmittel aus. Noch bis in die 1950er Jahre stammte die Milch in Zürcher Haushaltungen aus einem Umkreis von maximal 30 Kilometern. Zu dieser Zeit existierten im Raum oberer Zürichberg-Gockhausen-Gehren rund 15 aktive Bauernbetriebe. Die Bauern lieferten ihre Milch zweimal pro Tag in die Milchütte nach Gockhausen. Von dort wurde die frische Rohmilch auf der morgendlichen Milchtour von Gusti Peter, später von seinem Schwiegersohn in die Haushaltungen am Zürichberg geliefert. Zuerst mit Ross und Wagen, dann mit einem «Pfander» und in den 1960er Jahren mit einem VW Bus. Manch ein Quartierbewohner erinnert sich daran.Die Familie Peter kam wohl 1925 nach Gockhausen. Die Zwillingsbrüder führten die Milchsammelstelle unter dem Namen Gebrüder Peter. Daneben gab es noch einen Bauernhof zu bewirtschaften. Gusti war für die Milchhütte und die Milchtour zuständig und amtete gegenüber den Bauern als Milchkäufer, Walti betrieb die Landwirtschaft. So kam man sich geschäftlich nicht in die Quere. Am Morgen und am Abend brachten die Bauern aus der Umgebung die Milch in grossen Tansen an die Tobelhofstrasse, wo sie gewogen, gesiebt, umgefüllt und anschliessend in den Kühlraum verfrachtet wurde. Am Abend kamen dann meistens die Kinder aus dem Dorf mit dem Kesseli und dem Milchbüchlein. Nur am Monatsende, wenn es die Rechnung zu begleichen galt, wurden sie von Vater oder Mutter begleitet.
Die leichte und die schwere Milchtour
Am Morgen kurz nach sieben Uhr, nachdem der letzte Bauer abgefertigt war, lud man die Milch auf den Wagen und machte sich auf den Weg in Richtung Zürichberg auf die Milchtour. Nach dem Tod von Gusti, stieg der Schwiegersohn Hannes Kunz mit der Unterstützung seiner Schwiegermutter Ende der 1950er ins Milchgeschäft ein. War man mit Ross und Wagen unterwegs, absolvierte man die sogenannte leichte Tour entlang der Route Heubeerischulhaus, Freudenbergstrasse, Rigiblick, Restelbergstrasse, Billeterstrasse, Krähenbühl- und Susenbergstrasse. Für die schwere Tour schaffte Mutter Peter mit der Zeit einen «Pfander» an. Damit war der Milchführer unterwegs und bediente die Klösterli-Siedlung, die Krönleinstrasse, den Fritz-Fleiner-Weg und die Schlössli- und Hinterbergstrasse, wobei man die obere Hinterbergstrasse immer zu Fuss beliefern musste. Sie war auch für den «Pfander» zu steil.
Kommunikation über das Milchbüchli
Die Kunden bestellten nicht per Telefon, sondern über das Milchbüchli. Auch wenn mit der Bestellung etwas «lätz war» oder ein Produkt nicht geliefert werden konnte, von beiden Seiten wurde fleissig ins Milchbüchli gechrieben. Ihre Bestellungen beglichen die meisten Kunden Ende Monat. Einige legten das Geld aber auch bar ins Milchchesseli. Neue Kunden gab es über Mund zu Mund Propaganda. Werbung musste man keine machen. Es zogen sowieso immer mehr Leute ins Quartier. Die Familie Peter, später Kunz-Peter belieferte fast ausschliesslich Privathaushalte. Ausnahmen waren das Justinusheim, das damals noch ein Altersheim war und das Restaurant Morgensonne. Die Morgensonne hatte viele Anlässe, denn es gab einen grossen Saal und eine Kegelbahn. Neben der täglichen Milch, lieferte man Käse, Eier, Joghurt, später auch noch Quark. Der Käse kam entweder von der Toni-Molkerei oder von der Käserei Strähl, die jede Woche einen Käsehändler mit einer Auswahl vorbeischickten. Allerdings gab es keine ausgefallenen Produkte, sondern Tilsiter, Emmentaler und Appenzeller, eher selten Ziger, denn am Zürichberg war ein Zigermandli mit seiner Krätze unterwegs. Man wollte ihm keine Konkurrenz machen, erinnert sich Hannes Kunz. Woher er kam, weiss er allerdings nicht mehr. Möglicherweise von der Firma «Strich mi», die ein Geschäft unten in der Stadt hatte.
Ein hochoffizielles Milchbüro
Man war darauf bedacht, dass alle ihr Auskommen hatten, doch durfte man sich auch von Amtes wegen nicht in die Quere kommen. Das Milchgeschäft war streng reglementiert. Es gab sogar ein städtisches Milchbüro, das die Milchrouten festlegte. So kamen sich die Betreiber der Gockhausener Milchhütte weder mit der Molkerei Fluntern am Spyriplatz, noch mit den Vereinigten Zürcher Molkereien ins Gehege. Die Milchhändler mussten einen sogenannten Kundenfranken entrichten, der sich aus der Anzahl Kunden und den verkauften Litern Milch errechnete. In der Milchgesetzgebung der Stadt Zürich vom 1.1.1951 hiess es: «Für die Milchlieferung ins Haus (Strassenkundschaft) gilt die Quartiereinteilung mit Einerbezirken, d.h. jedem Milchhändler ist ein Lieferbezirk zugewiesen, worin ausschliesslich er und ausserhalb dessen er nicht ins Haus liefern darf. (Eine Ausnahmebestimmung, wonach einem Kunden auf begründete Beschwerde hin die Belieferung durch einen andern Milchhändler bewilligt werden kann, ist ohne praktische Bedeutung geblieben, ebenso eine andere, wonach Milchproduzenten ihre eigene Milch ohne Rücksicht auf die Quartiereinteilung ins Haus liefern dürfen.) Die Quartiereinteilung gilt nicht für Lieferungen an Gewerbekundschaft (Restaurants und andere kollektive Haushaltungen, denen die Milch in grösseren Mengen ins Haus geliefert wird) und für den Ladenverkauf. Praktisch rekrutiert sich die Ladenkundschaft aus der Nachbarschaft, d.h. aus dem eigenen Lieferbezirk des Milchhändlers. Die Bedeutung der Kundschaft wird in Tageslitern gemessen und beim Verkauf von Milchgeschäften entsprechend entschädigt. Übersetzte Entschädigungen sind verboten.»
Die überschüssige Rohmilch lieferte man der Toni-Molkerei oder den Vereinigten Zürcher Molkereien. Von Montag bis Samstag kamen sie die Milch in der Milchhütte abholen, am Sonntag musste man sie selber bringen. Selbstverständlich ging man auch am Sonntag auf die Milchtour.
Kundennähe
Mit den Kunden hatte man es gut, erzählt Hannes Kunz. Im Winter gab es da und dort einen heissen Kaffee. In bester Erinnerung sind ihm auch die feinen Weihnachtsguetsli bei der Familie Hatt-Haller an der Susenbergstrasse. Von Frau Direktor Müller gab es zu Weihnachten jeweils eine Seidenkravatte, denn ihr Mann besass eine Seidenfärberei in Schlieren. Dass die Frauen mit dem Titel ihrer Ehemänner angesprochen wurden oder werden wollten, gehörte damals einfach dazu. Man hatte noch Zeit oder nahm sie sich. Was spielte es schon für eine Rolle, ob man eine Stunde später nach Hause kam oder wie Gusti Peter noch einen Abstecher ins Waldeck machte.
Milchbüchlirechnung und Milchzahltag
Wie es mit dem Bezahlen ging? Unterschiedlich. Man verlor schon auch Geld, weil Kunden nicht zahlten oder nicht zahlen konnten und mit offenen Rechnungen wegzogen, erinnert sich Hannes Kunz. Aber Geld aus den Milchkästen wurde nie gestohlen, obwohl ja alle wussten, dass Ende Monat die Milchbüchlirechnung beglichen wurde. Allerdings befanden sich die Milchkästen ja noch im Hauseingang und nicht wie heute draussen vor den Haustüren. Am 10ten jedes Monats war dann Milchzahltag für die Bauern. Zu Gustis Zeiten fand die Auszahlung jeweils im Restaurant Frohsinn in Gockhausen statt – sehr zur Freude des Wirtes, ist zu vermuten. Streit ums Geld gab es nie. Der Milchpreis wurde vom Milchverband festgelegt und war für den Milchkäufer bindend. Nach Gustis Tod führte die Witwe Mutter Peter den Betrieb bis zum Einstieg des Schwiegersohnes alleine weiter. Zahltag gab es dann aus offensichtlichen Gründen nicht mehr in der Wirtschaft.
Die Qualität der Milch wurde meistens auf offener Strasse kontrolliert, beziehungsweise ein Mitarbeiter des Gesundheitsamtes entnahm direkt auf der Tour Milchproben aus den Tansen. Am oberen Zürichberg war es Walti Temperli. Wie mit dem Pöstler, den Zeitungsverträgern, Handwerkern, den Hausierern und Vertretern hatte man auch mit dem Kontrolleur ein gutes Einvernehmen.
Die Rohmilch kommt in Verruf
In den 1960er Jahren wurden die Vorschriften bezüglich Hygiene weiter angehoben und der offene Rohmilchverkauf immer stärker reglementiert. Gemäss Hannes Kunz war das Thema Rohmilch ein grosses Politikum. Im Gegensatz zur Schweiz – welche dank tuberkulosefreier Rinder den Offenverkauf von unpasteurisierter Milch zuliess – war der Genuss von Rohmilch in vielen ausländischen Staaten verboten. Hannes Kunz meint sich zu erinnern, dass es sogar eine Phase gab, in denen gewisse Länder ihren Bürgern die Einreise in die Schweiz verboten hätten.
Maul- und Klauenseuche
Allen Vorschriften zum Trotz brach in der Schweiz 1965 eine schwere Maul- und Klauenseuche aus. Die Wärter konnten nicht mehr nach Hause und mussten im Zoo übernachten. Die Bauern vom Adlisberg und Tobelhof durften ihre Milch nicht mehr nach Gockhausen liefern. Vor der Milchhütte musste ein Sägemehlband von 1.5 Meter angebracht und mit «Kauscher-Soda» durchtränkt werden, um zu verhindern, dass die Seuche in die Milchhütte geschleppt wurde.
Wie war er doch fein, der Rahm
Doch nochmals kurz zurück zur Rohmilch- und Milchkesselizeit. Ausgeschenkt wurde sie mit einem «Liter- und einem Halblitermäss». Und natürlich gab es für die Kunden immer noch ein «Zustüpfli». Das wunderbare an der Rohmilch war der Rahm. In vielen Küchen stand ein spezielles Rahmgefäss mit Schnabel oder die Milch wurde abgerahmt. War der Winter besonders streng konnte es vorkommen, dass die Milch gefror, im Sommer gerne einmal, dass sie sauer wurde. Aber das gehört einfach dazu. Mit dem Aufkommen der Pastmilch war es dann vorbei mit dem Rahm und dem «Zustüpfli». Profan drückte man dem Kunden nun eine Packung keimfreier Pastmilch in die Hand.
Rückgang des Milchkonsums
Über vierzig Jahre waren Hannes Kunz und seine Frau Verena Kunz auf der Milchtour. Zu den besten Zeiten waren sie mit zwei Lieferwagen unterwegs, einen für sich, einen für den Milchführer. Doch die sich auflösenden traditionellen Familienstrukturen, die zunehmende Berufstätigkeit der Frauen, die generell veränderten Arbeitszeiten und Einkaufsverhalten – um einige Faktoren zu nennen – blieben nicht ohne Auswirkungen auf den Milchkonsum. Immer weniger Familien sassen am Morgen am traditionellen Frühstückstisch mit Haferflockenbrei, Milch, Brot, Butter und Käse oder am Abend beim «Café Complet». Die Statistik spricht eine deutliche Sprache: 1996 wurde gerade einmal noch halb so viel Milch konsumiert wie 1960. Der Milchverbrauch pro Kopf sank innerhalb dieser 36 Jahre von einem halben auf einen Viertel-Liter pro Tag. Seit 2006 gehört die Milchtour der Familie Kunz-Peter der Vergangenheit an.
Gabriela Mattes, nach Erinnerungen von Hannes Kunz-Peter und Franz Heiniger