Flunterns Stolz — Die Grosse Kirche

November 2015. Ziemlich genau 100 Jahre vorher fiel in Fluntern ein denkwürdiger Entscheid: Am 18. November 1915 wählte das Preisgericht der evang.-ref. Kirchgemeinde Fluntern aus 92 Entwürfen für den Bau einer neuen Kirche das Projekt der Architekten Curjel & Moser aus – ein Entscheid, der das Ortsbild von ganz Zürich bis heute prägt. Denn seit der Fertigstellung des Kirchenbaus im Frühjahr 1921 kann man von hier aus eine phantastische Aussicht über die ganze Stadt geniessen. Allerdings uneingeschränkt wahrscheinlich nicht mehr sehr lange. Dann nämlich, wenn die Hochhäuser des neuen Universitätsquartiers wie geplant wie ein Riegel davor liegen werden.

Vorausgegangen waren über 25 Jahre lange Diskussionen in der Kirchgemeinde, ob man denn überhaupt eine neue Kirche bauen sollte. Es gab Befürworter und entschiedene Gegner. Die Gegner argumentierten damit, dass Fluntern ja bereits eine Kirche habe und die Kosten für einen Neubau viel zu hoch wären. Die Befürworter verwiesen darauf, dass die alte Kirche aus dem Jahre 1761 inzwischen zu klein und zu wenig repräsentativ für das gestiegene Selbstgefühl der Fluntermer sei. Zudem störe sie der immer mehr zunehmende Verkehrslärm vor der alten Kirche in ihrer Andacht.
Zunächst setzten sich die Gegner durch. Statt eines Neubaus wurde 1890 Flunterns «Kirchlein» mit bescheidenen Mitteln renoviert. Die Befürworter allerdings liessen nicht locker. Und sie hatten die Fakten auf ihrer Seite.

Wegen Überfüllung geschlossen
Lebten 1850 1462 Menschen in Fluntern, so verdreifachte sich ihre Zahl fast in den nächsten 50 Jahren auf 3984. Und es waren vorwiegend gut situierte Menschen, die nach Fluntern zogen. «Die Gemeinde vergrösserte sich zusehends, da an den Hängen des Zürichbergs in den letzten Jahren immer mehr Villen erstellt worden waren». Es wurde eng in Flunterns Kirchlein. Die 120 Plätze, eingeteilt in Männer- und Frauenbänke, reichten nicht mehr. «Sonntag für Sonntag war das alte Kirchlein vollgepfropft, während zahlreiche weitere Kirchenbesucher im vorhandenen Raum überhaupt keinen Platz mehr fanden.» (Fehr, Die neue Kirche Fluntern, S. 36)

Ein Schnäppchen
Es dauerte allerdings über 15 Jahre, bis die Vorarbeiten für einen Kirchenneubau energisch wieder aufgenommen wurden. Auch ein Grundstück hatte man inzwischen im Auge. Doch das gehörte überwiegend der Stadt Zürich. Die Verhandlungen mit ihr brachten rasch ein Ergebnis. 1907 wurde ein Tauschvertrag abgeschlossen: «Die Kirchgemeinde überträgt in das Eigentum der Stadt Zürich: Das Gebäude der alten Kirche in Fluntern nebst 283 qm Gebäudeplatz … Dagegen tritt die Stadt Zürich der Kirchgemeinde Fluntern zu Eigentum ab: Ein Areal beim Tobelgarten mit einem Flächeninhalt von 1660 Quadratmetern.» (Tauschvertrag vom 7.6.1907 – Stadtarchiv Zürich) Mit diesem Deal waren beide Seiten recht zufrieden: Zürich erwarb die alte Kirche, um sie «zwecks Freilegung der Baulinie» später einmal abreissen zu können und die Kirchgemeinde bekam für ihre 283 qm ein Areal von 1660 qm und endlich einen Bauplatz für eine neue Kirche.

Freie Sicht auf Zürich – Sehen und gesehen werden
Damit waren noch nicht alle Probleme gelöst. Die Verhandlungen mit anderen Grundstückseigentümern zogen sich über Jahre hin. «Denn es zeigte sich, dass zur richtigen Platzierung der Kirche es wünschbar wäre, mit den dem Kirchenbauplatz benachbarten Grundeigentümern ein Abkommen über Freihaltung der Aussicht von der Kirchenterasse zu treffen. Das allerdings gelang zunächst nicht. Hier nun erwies sich die neue Bauordnung Zürichs der Stadt als hilfreich …» (Fehr, Die neue Kirche Fluntern, S. 25) Die Stadtverwaltung hatte sie speziell im Hinblick auf die Höhenlage des Zürichbergs verschärft. Die Forderung der Kirchgemeinde, ihre Kirchenterasse vor hohen Bauten zu schützen, den Blick auf Zürich zu sichern «wurde ohne weiteres Zutun erfüllt.»
1911 war das Werk vollbracht, alle Grundstücke im Besitz der Kirchgemeinde. Danach ging es zügig weiter: Eine Baukommission wurde gegründet, die berief ein Preisgericht, das schrieb einen Architektenwettbewerb aus. Bis April 1913 gingen nicht weniger als 92 Entwürfe ein. Und an jenem 15. November 1915 entschied man sich den Entwurf von Karl Moser zu realisieren. Der übrigens beliess es nicht bei seinem Plan für die Grosse Kirche. Er entwarf dazu gleich ein Modell für die Bebauung des ganzen Gebietes zwischen der Hochstrasse und der Kantstrasse. Der städtebaulich nicht uninteressante Entwurf allerdings wurde so nie realisiert.
Ein Jahr später beschloss die Kirchgemeindeversammlung, mit dem Bau der Kirche und eines Pfarrhauses unverzüglich zu beginnen. Ein grosses Wagnis. Denn in Europa wütete der Krieg. Mit Folgen auch für die Schweiz. Der Chronist nennt für jene Jahre «eine phantastische Verteuerung der Lebensmittel, ein unsinniges Schieberwesen … Auf der einen Seite standen Riesengewinne, auf der anderen drohende Not. Dadurch wurden die Gemüter der Teile des Volkes, die auf den Ertrag ihrer täglichen Arbeit angewiesen waren, beunruhigt und gereizt.» (Fehr, Die neue Kirche Fluntern, S. 35)

Ein Friedhof als Startkapital
Bei der Finanzierung des Kirchenneubaus glaubte man sich auf der sicheren Seite. «Man durfte hoffen, dass die Steuerkraft der Gemeinde auch einer starken Belastung werde gewachsen sein. So glaubte die Gemeinde den Baubeschluss verantworten zu können.» (Fehr, Die neue Kirche Fluntern, S. 36)
Zudem hatte in weiser Voraussicht die Kirchgemeinde Rücklagen gebildet. Schon vor Jahren hatte man den alten Fluntermer Friedhof an die Stadt Zürich verkauft. Der Erlös von 70000 Franken ging direkt in den Kirchenbaufonds. Inzwischen lagen 335000 Franken dort. 1.320000 sollte die Kirche und ein neues Pfarrhaus kosten. Den fehlenden Betrag wollte man durch ein Darlehen finanzieren. 4½ % Zinsen bot man den Anlegern. Offensichtlich zu wenig, denn nur 650 000 Franken kamen herein. Deshalb musste der Zinssatz wenig später auf 5½ % erhöht werden.
Der Bau der Kirche verlief dann reibungslos und im Verglich mit heutigen Bauvorhaben in rasantem Tempo: 10. Juni 1918 – Erster Spatenstich, 10. Juni 1919 – Bezug des Pfarrhauses, 21. März 1919 – Einweihung der Kirche.

Ebenbürtig oder grössenwahnsinnig
«Zwar rief nur das C-Glöcklein der alten Kirche zum Gottesdienst, dessen ungeachtet war die Kirche bis auf den letzten Platz besetzt. … Hell funkelte der goldene Stern auf der Turmbekrönung und auf den Gesichtern der Kirchengenossen strahlte die Freude über den wohlgelungenen Bau.» (Fehr, Die neue Kirche Fluntern, S. 47)
Ganz fertig war Flunterns Kirche an diesem Tag noch nicht. Es fehlten die Glocken. Sie kamen erst drei Monate später. Im Glockenstuhl der neuen Kirche hängen seit dem 26. Mai 1920 sieben Glocken. «Manch einer hat bei der Glockenweihe gefunden, die Fluntermer hätten den Grössenwahn. Aber das trifft nicht zu … .Denn darüber, dass für das Gotteshaus auf dem unvergleichlichen Höhenplateau nur ein Geläute passt, das dem der anderen Kirchengemeinden ebenbürtig ist, darüber waren sich alle klar.» (Fehr, Die neue Kirche Fluntern, S. 47)
Das, was sich die Fluntermer gewünscht hatten, bekamen sie: Eine grosse, repräsentative, von ganz Zürich aus sichtbare Kirche mit nicht weniger als 1237 Plätzen. Dazu kamen «Unterweisungszimmer», ein Gemeindesaal, Garderoben und eine grosse Küche. Was aus heutigem Blickwinkel überdimensioniert erscheint, war es damals nicht. Denn von den 5917 Einwohnern Flunterns gehörten 4190 zur evang.-ref. Kirche.
Hundert Jahre später zählt die evang.-ref. Kirche Fluntern noch 2672 Mitglieder. Zu ihrem Zentrum ist in den letzten Jahren immer mehr wieder die Alte Kirche geworden. Deren Intimität und Ästhetik scheint dem Zeitgefühl zu entsprechen. Die Grosse Kirche dagegen steht meistens leer. Nur an wenigen Tagen im Jahr – zu hohen Kirchenfesten etwa oder beim Weihnachtssingen von Flunterns Kindern – sind ihre über 1000 Plätze gefüllt. Und alle zwei Jahre kann man ungefähr einen Eindruck davon bekommen, wie es eigentlich sein könnte: Beim Fluntermer Basar. Dann lebt die Kirche, wird sie mit all ihren Nebenräumen zu einem Zentrum der Gemeinde.
Überlegungen, wie die Kirche heute genutzt werden könnte, gab es immer wieder: Für Vorlesungen der Universität oder das Projekt eines Quartierzentrums.
Vor einigen Jahren überraschte Thomas Grossenbacher, der ehemalige Pfarrer der evang.-ref. Kirchgemeinde, mit einer Idee. Anstelle des Moserbaus schlug er vor, eine neue kleine Kirche zu bauen. Ein von Beginn an aussichtsloses Unterfangen. In der erregten Diskussion darüber ging allerdings verloren, dass hinter Grossenbachers Idee durchaus grundsätzliche Überlegungen standen: Welche Kirchen, mit welcher Raumsprache, und wie viele werden in heutiger Zeit wirklich benötigt? Seine Überzeugung: «Der Glaube braucht zu jeder Zeit andere Ausdrucksformen.»
Die Grosse Kirche Fluntern wurde in einer Zeit gebaut als Repräsentation ein wichtiger Gesichtspunkt war, es «zum guten Ton» gehörte, am Sonntag zum Gottesdienst zu gehen. Heute stehen, nicht nur in Fluntern, in den Kirchen Räume leer, verursachen hohe Kosten – ein Problem, das zu seiner grundsätzlichen Lösung viel Zeit und vor allem Ideen brauchen wird.

Martin Kreutzberg