Flunterns Seele — Die alte Kirche
250 Jahre alt wird sie im August 2013 – die «Alte Kirche Fluntern». Zusammen mit dem «Alten Schopf», dem «Gelben Hof», dem «Alten Haus» an der Zürichbergstrasse, dem Nägelihaus und dem «Gesellenhaus» am Vorderberg prägt sie bis heute das Gesicht von Fluntern, gilt als dessen Seele.Das Jubiläum trifft aber nur auf das Gebäude zu. Denn eine Funktion als Kirche für Fluntern hatte sie nur ganz wenige Jahre. Erst gut 120 Jahre nach ihrem Bau konnte im September 1888 Pfarrer Alfred Usteri seiner Gemeinde hier das erste Abendmahl reichen.
Fast zeitgleich deutete sich aber schon ihr Ende an.
1907 veräusserte die Kirchgemeinde Fluntern die «Alte Kirche» im Zuge der Neubauplanung der «Grossen Kirche» an die Stadt Zürich. Nach deren Fertigstellung 1920 verlor das «Kirchlein» an der Zürichbergstrasse ihre Funktion als Kirche für Fluntern. Endgültig.
So schien es …
Das zechende Volk wartete mit Ungeduld
Eine politisch selbständige Gemeinde war Fluntern schon seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts, aber es hatte keine eigene Kirchgemeinde. Seit 1614 gehörte Fluntern zur Kirchgemeinde Predigern in Zürich. In deren Kirche fanden das Abendmahl, die Taufen, Hochzeiten oder Abdankungen statt. Kein grosses Problem für die damals um die 600 Menschen, die in Fluntern lebten. Man ging halt in die Stadt zum Gottesdienst.
Anders sah es bei den Kindern aus. Deren Unterrichtung im Glauben, die Kinderlehre, konnte nicht in der Stadt durchgeführt werden. Der Weg nach unten, besonders im Winter, war für die Kinder zu weit. Also musste der Unterricht in Fluntern stattfinden. Und zwar im Gesellenhaus am heutigen Vorderberg. Dieses war nun allerdings zunächst ein Wirtshaus, eine Kneipe. Also nicht unbedingt der geeignete Ort für die Belehrung der Kinder im Glauben. In der Wirtsstube wurden die Kinder unterrichtet, «während vor der Türe das zechende Volk mit Ungeduld auf den Schluss der Kinderlehre wartete» (Denzler, Festpredigt, S. 9). Über 100 Jahre ging das so. Dann platzte den Fluntermern der Kragen. «Wenn die Orte, wo der Gottesdienst soll verrichtet werden, heilig, rein und abgesondert sein sollen, so dürfen wir, ohne uns schwer zu versündigen, nicht behaupten, dass unser Gesellen- und Wirtshaus unbefleckt, heilig und rein geheissen werden kann.» (Denzler, Festpredigt, S. 10)
Um Kinderlehre und Kneipe voneinander zu trennen, diese Erkenntnis setzte sich in Fluntern durch, brauchte es ein eigenes Bethaus für die Kinder. Heinrich Notz hiess der Mann, der dann um 1760 die Sache in die Hand nahm.
Für eine Mass Wein
Der Hauptmann und Untervogt sorgte dafür, dass die Gemeinde Fluntern am 23. März 1761 einstimmig den Bau eines Bethauses beschloss. Die Bereitschaft der Fluntermer, für ein eigenes Bethaus Opfer zu bringen, war gross. Trotzdem wurde ein Bittgesuch bei der Regierung von Zürich um finanzielle Unterstützung eingereicht. Mit Erfolg.
Danach wurde in einem heute kaum noch nachvollziehbaren Tempo schliesslich der Bau des Bethauses realisiert. Errichtet in solidarischen Frondiensten, zu denen jeder Gemeindegenosse verpflichtet war.
«Ein edler Wetteifer», so der Fluntermer Chronist Johann Rudolf Denzler, «ergriff ganz Fluntern, selbst bei dem Frondienst, der auch im Winter vom Morgen 7 Uhr bis abends 5 Uhr geleistet wurde», ohne Bezahlung, für «eine Mass Wein und einen halben Laib Brot». (Denzler, S. 10)
Bereits ein Jahr nach dem Beschluss der Gemeinde konnte der Dachstuhl aufgerichtet werden und zu Pfingsten 1763, nach weniger als zweijähriger Bauzeit, war das Werk vollendet. Ohne das Budget überzogen zu haben. Denn: Geschäftstüchtig und sparsam waren sie, die Fluntermer vor 250 Jahren. Die Einnahmen für den Bau der Kirche betrugen 3324 Gulden, die Ausgaben 3125 Gulden. Nach Bezahlung aller Rechnungen blieb damit ein Überschuss von199 Gulden.
Ganz Fluntern war stolz auf seinen «Jugendtempel».
Ohne Turm und Glocke und ohne Pfarrer
Es war ein schlichter Bau, ohne Turm und ohne Glocke, ein Ort der Christenlehre für die Kinder, aber keine Kirche. Denn Gottesdienste, Taufen oder Hochzeiten durften hier nicht durchgeführt werden, sondern nur, «… um die Predigerkirche besser mit Andächtigen zu füllen» (Meier, Fluntern, Januar 1974, S. 3) in der offiziellen Kirche Predigern unten in der Stadt Zürich.
Zwar hatte Fluntern schon seit 1643 einen Katecheten für die Kinderlehre, nicht jedoch einen eigenen Pfarrer. Noch bis 1861, also hundert Jahre nach dem Bau des Bethauses, wurde «der Gemeindegeistliche nur als Jugendlehrer bestellt.» (Fehr, Die neue Kirche Fluntern, S. 9) Nur ganz langsam entstand eine eigenständige Kirchgemeinde, erweiterten sich deren Kompetenzen, wurde aus dem «Jugendtempel» und «Bethaus» schliesslich die «Kirche Fluntern».
Zuerst wurden Nottaufen und die Konfirmation erlaubt, ab 1844 durfte einmal im Monat ein Morgengottesdienst abgehalten werden. Aber erst durch das Kirchengesetz vom August 1861 bekam gemäss Paragraf 206 Fluntern eine eigene Kirchenpflege und der Gemeindegeistliche das Recht, sich Pfarrer nennen zu dürfen.
Gewissermassen als äusseres Zeichen dieser Erhöhung erhielt das «Bethaus» 1862 einen Turm mit Uhr und Glocke und damit ihr heutiges Erscheinungsbild. Und im folgenden Jahr feierte man in Fluntern «mit einem bescheidenen Festmahl» das hundertjährige Bestehen der «Alten Kirche».
Aufstieg und Abstieg
Es dauerte nochmals gut 25 Jahre, bis «am Bettag 1888 Pfarrer Alfred Usteri seiner Gemeinde in der Kirche Fluntern das erste Abendmahl reichen konnte» (Fehr, Die neue Kirche Fluntern, S. 11) – ein Höhepunkt in der inzwischen über 120 jährigen Geschichte des «Jugendtempels», des «Bethauses».
Ab jetzt war das «Kirchlein Fluntern» eine richtige Kirche. Ziemlich zeitgleich begann aber auch schon ihr Abstieg. Denn Zürich hatte sich verändert.
Als die Kirche 1761 gebaut wurde, lebten in Fluntern lediglich 640 Menschen. Zunächst stieg ihre Zahl nur langsam an. 1800 waren es gerade 650. Dann aber ging es schnell. Bis 1850 hatte sich die Einwohnerzahl mehr als verdreifacht und stieg im späten 19. Jahrhundert weiter rasant. Ursächlich dafür war die Entwicklung der Stadt Zürich.
Um 1830 begann Zürich regelrecht zu explodieren. Nachdem 1832 die Beseitigung der die Stadt eingrenzenden Schanzen beschlossen worden war, setzte eine enorme Entwicklung der Wirtschaft ein. 1836 befanden sich nicht weniger als 500 Gebäude gleichzeitig im Bau. Die Fluntern prägendsten Ereignisse dabei waren die Gründung der Universität 1833 und der «Eidgenössischen polytechnischen Schule», der ETH, im Jahre 1855. Deren Professoren und die Studenten und Studentinnen kamen aus aller Welt und sie brauchten Wohnraum. Zürich rückte immer mehr an Fluntern heran und Fluntern an die Stadt.
Mit Konsequenzen für die «Alte Kirche». Das eben erst zu einer «richtigen» Kirche aufgestiegene Kirchlein erwies als zu klein. Denn der bei weitem überwiegende Teil der Neuzuzüger waren Protestanten. Man erwog sogar Doppelgottesdienste am Sonntag. Innerhalb der Gemeinde standen sich zwei Lager gegenüber. Das eine plädierte für eine Erweiterung der bestehenden Kirche, das andere für einen Neubau.
Zunächst setzten sich die Bewahrer durch. Die alte Kirche wurde 1891 renoviert und erweitert. «Die Bestuhlung wurde erneuert, es wurden neue Fenster eingesetzt, die Empore erweitert und daselbst eine neue Orgel aufgestellt … Auf den 1. August 1891 wurde die renovierte Kirche dem Gottesdienst wieder übergeben und das Ereignis durch ein Jugendfest gefeiert.» (Fehr, Die neue Kirche Fluntern, S. 21).
Eine Notlösung, wie sich schnell herausstellte. Denn Fluntern wuchs weiter. 1894, im Jahre der Eingemeindung, wohnten bereits 3584 Menschen in Fluntern. Im gleichen Jahr erreichte die «elektrische Strassenbahn» vom Pfauen her die Kirche Fluntern.
Immer mehr gewann deshalb der Gedanke Raum, eine neue, grössere und vor allem eine dem gestiegenen Selbstwertgefühl der Fluntermer entsprechende repräsentative Kirche zu bauen.
Zunächst fehlte es an Geld für so ein ambitioniertes Projekt. Doch dann konnte der alte Fluntermer Friedhof an der Platte für stolze 70000 Franken an die Stadt Zürich verkauft werden.
Kirche auf Abruf
1896 setzte sich die Neubaufraktion in der Kirchgemeinde Fluntern endgültig durch und beschloss den Ankauf eines Grundstücks für die Errichtung der «Grossen Kirche Fluntern». Da ein Teil des dafür benötigten Areals der Stadt Zürich gehörte, bot man ihr im Tausch dafür die «Alte Kirche» an. Die Stadt griff zu. Nicht ganz ohne Hintergedanken und uneigennützig, wie sich herausstellen sollte.
Im Juni 1907 wurde der Tauschvertrag abgeschlossen.
«Die Kirchgemeinde Fluntern überträgt in das Eigentum der Stadtgemeinde Zürich das Gebäude der alten Kirche in Fluntern. Dagegen tritt die Stadtgemeinde der Kirchgemeinde Fluntern zu Eigentum ab die Katasternummer 1439». (Kaufvertrag, 7.6.1907) Für ihr knapp 300 qm grosses Grundstück an der Zürichbergstrasse erhielt die Kirchgemeinde ein fast 1700 qm grosses für ihren Neubau. «Kanzel, Taufstein, die Bestuhlung, die Glocke, die Uhr mit Zifferblättern und die bemalten Fenster» blieben im Besitz der Kirchgemeinde.
Man ging in die Einzelheiten: «Die Uhr wird belassen. So lange die Uhr besteht, ist die Bedienung letzterer Sache der Stadt.» Vor allem aber wurde vertraglich vereinbart, dass die Kirchgemeinde die «alte Kirche gegen eine Bezahlung einer jährlichen Miete von 100 Fr. für den Konfirmandenunterricht und die Sonntagsschule mitbenutzen» (Kaufvertrag, 7.6.1907) durfte.
Kein schlechtes Geschäft. Auch nicht für die Stadt Zürich. Deren Stadtväter dachten damals durchaus langfristig. Denn die Benutzung ihrer Immobilie durch die Kirchgemeinde, so wurde es im Tauschvertrag festgelegt, galt nur «… bis zu dem Zeitpunkt, auf welchen die Stadt das Gebäude zwecks Freilegung der Baulinie abtragen muss.» (Kaufvertrag, 7.6.1907)
Von da ab schwebte der drohende Abriss wie ein Damoklesschwert über der «Alten Kirche Fluntern».
Eine Glocke zieht um
Zunächst aber hatte die «Alte Kirche» weiter ihren Dienst zu leisten. Denn die Planungen für den Bau einer neuen Kirche zogen sich hin. Über Jahre.
Im November 1913 wurde ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben. Zwei Jahre später, im November 1915, entschied man sich für den Entwurf der Architekten Curjel & Moser.
Und schliesslich dauerte, auch wegen des 1. Weltkrieges, der Bau der neuen Kirche fast fünf Jahre.
Die «Alte Kirche» indessen hatte die Grenzen ihrer Kapazität längst überschritten. Von Karl Fueter, Pfarrer in Fluntern seit 1916, wird berichtet, dass «… er oft seinen Weg zur Kanzel über die Beine der Zuhörer bahnen und seine Predigt bis dreimal halten» musste. (Fluntern – Vom Weinbauerndorf zum Stadtquartier am Zürichberg, S. 52)
Noch bis zum Jahre 1920 rief die kleine Glocke in der alten Kirche zum Gottesdienst. Bis zur Fertigstellung des Neubaus. Dann zog sie – gewissermassen als äusseres Zeichen der Verbundenheit beider Kirchen – mit in die Grosse Kirche um.
Am 14. März 1920 nahm die Gemeinde in einem feierlichen Gottesdienst Abschied von ihrer alten Kirche. Eine Woche später fand die Einweihung der neuen Kirche statt.
«Zwar rief nur das C-Glöcklein der alten Kirche zum Gottesdienst, dessen ungeachtet war die Kirche bis auf den letzten Platz besetzt … Hell funkelte der goldene Stern auf der Turmbekrönung und auf den Gesichtern der Kirchgenossen strahlte die Freude über den wohlgelungenen Bau …» (Fehr, Die neue Kirche Fluntern, S. 47)
Gross war der Stolz der Fluntermer über ihre schöne neue Kirche. Über 30 Meter hoch, von ganz Zürich aus zu sehen, ragte ihr Turm in den Himmel. Nicht weniger als 1237 Plätze gab es im Kirchenraum. Dazu kamen ein Gemeindesaal mit 200 Plätzen, Unterweisungszimmer und ein Büro. Selbst an eine Teeküche hatte man gedacht.
Zum Abriss freigegeben
Über all diesen Herrlichkeiten versank das Kirchlein aus dem Jahre 1763 in Vergessenheit. Der Stadt Zürich gehörend und scheinbar zwecks «Freilegung der Baulinie» ohnehin zum Abriss bestimmt, interessierte sich in Fluntern niemand für sie.
1926 arbeitete ein Maler in der Kirche. Danach mietete sie der Bildhauer Hermann Würtz von der Stadt. Er nutzte das Kirchlein als Atelier und Wohnung mit seiner Familie. «Er machte viele Bildwerke. Sein Kind spielte auf den Fliessen, die Frau gebar ihm ein zweites. Und alle vier wohnten in der hinteren Ecke des Kirchraums. Gesund war’s nicht gerade. Etwas feucht! Aber billig!» (Zürcher Illustrierte, Januar 1932)
Lange hielt es die Familie nicht in der Alten Kirche aus. Und dann stand sie leer. «Das Mauerwerk bröckelte. Moos wuchs zwischen den Fliessen, klaffend hingen die Ofenrohre von der Wand herunter …» (Wickihalder Schoop an Kirchgemeinde Fluntern, 12.6.1935) Ein erbarmungswürdiger Zustand, den aber in Fluntern niemanden störte. Bis 1931. Dann bot der Stadtrat Gertrud Wickihalder-Schoop, der international renommierten Ausdruckstänzerin, die Kirche als Raum für deren Bewegungsschule zur Miete an.
Damit geriet die alte Kirche Fluntern wieder ins Blickfeld der Fluntermer/innen.
Kirche als Tanzlokal
Jetzt brach ein Sturm der Entrüstung los.
In der ganzen Schweiz wurde über die «Kirche als Tanzlokal» berichtet. Die «Appenzeller Zeitung» rief zu einem «Kirchensturm» auf (Appenzeller Zeitung, 9.9.1931).
Auch der anfangs dem Projekt von Trudi Schoop positiv gegenüberstehende Präsident der Fluntermer Kirchenpflege, Prof. Frauchinger, der ihr «aufrichtigen Herzens versichert hatte, alles daran setzen zu wollen, um allfällige Proteste zu verhindern» (Brief Urs Frauchinger an Trudi Schoop, 25.8.1931) begann sich rasch zu distanzieren: «Da ich Sie persönlich seit Jahren aus Ihren künstlerischen Leistungen kenne und zudem das Religiöse nicht an Äusserlichkeiten binde, so kann ich nur bedauern, dass Ihre Absichten in weiten Kreisen der kirchlich gesinnten Bevölkerung nicht verstanden werden … Nun wird es kaum mehr Ruhe geben. Schliesslich werde ich als Präsident zurücktreten und einem frömmeren Mann Platz machen …» (Urs Frauchinger an Trudi Schoop, 25.8.1931).
Mit dieser Prophezeiung behielt er Recht. Zumindest teilweise. Zwar liess sich offenbar ein «frömmerer Mann» nicht finden und Prof. Frauchinger blieb Präsident der Kirchenpflege Fluntern, aber es gab «kaum mehr Ruhe» und der «starke Unwille» in der Kirchgemeinde und eine Schweiz weite Pressekampagne begannen Wirkung zu zeigen.
Im «Grossen Stadtrat von Zürich» kam es im September 1931 sogar zu einer erregten Diskussion über die «Verschacherung einer Kirche zu Tanzzwecken». Auch die Kirchenpflege wandte sich an den Stadtrat mit der Forderung, den Mietvertag mit Trudi Schoop rückgängig zu machen. «Wenn das unmöglich sei, so bittet die Kirchenpflege um eine Offerte, damit sie eventuell das alte Kirchlein wieder in eigenen Besitz bringen kann. Scheint dieses Opfer auch schwer, da das Gebäude im Lauf der Jahre dem Verkehr wird weichen müssen, so würde dadurch doch das allgemeine Ärgernis aufgehoben» (NZZ 1931)
Noch hielt das «allgemeine Ärgernis» Trudi Schoop durch. Aber der Druck nahm zu.
Besonders als sie mehr und mehr ihr «Studio Fluntern» der Öffentlichkeit zugänglich machte. Hier hielt am 11. November 1934 Augusto Giacometti erstmals seinen, die Schweizer Kunstszene nachhaltig prägenden, Vortrag «Die Farbe und ich». Landesweit übertragen im Schweizer Radio. Und sie lud vor den Nazis aus Deutschland geflüchtete Schriftsteller/innen zu Lesungen ein.
All das rief Widerstand hervor. Im Interesse der «erregten Gemüter» wurde Trudi Schoop schliesslich nachdrücklich gebeten, das Kirchlein endlich abzugeben. Prof. Frauchinger teilte ihr mit, «es sei nur seiner geschickten Taktik zuzuschreiben, wenn die Proteste gegen Frau Schoop nicht neuere, massivere Formen angenommen hätten».
Diesen «massiveren Formen» wollte Trudy Schoop sich und ihre Schülerinnen und Schüler nicht aussetzen. Aus den USA, wo sie sich zu einer Tournee aufhielt, liess sie durch ihren Mann Dr. Wickihalder mitteilen, dass «sie nicht länger in einer Gemeinde unterrichten wolle, in welcher sie dermassen unbeliebt sei» (Brief Wickihalder an Kirchgemeinde Fluntern, 12.7.1935)
Sie kündigte den Mietvertrag mit der Stadt Zürich und erwartete lediglich die Erstattung der Unkosten, die ihr durch die Renovation der Alten Kirche entstanden waren. Dies wurde ihr zugesagt, aber nicht eingehalten. In der Folge entbrannte ein längerer Streit ums Geld zwischen der Kirchgemeinde Fluntern und Trudi Schoop
Tuond umb Gotts Willen etwas Tapferes
Nachdem das «allgemeine Ärgernis» Trudi Schoop beseitigt war, hatte es die Kirchgemeinde nicht mehr eilig mit der Miete der Kirche. Die Stadt Zürich schien auf ihrem ungeliebten Besitz sitzen zu bleiben. Erst als Finanzvorstand Kaufmann der Kirchgemeinde mitteilte, dass die Steiner Schule «den Mietgegenstand für eurythmische Übungen sowie für Abhaltung von Versammlungen der Freien Christen-Gemeinschaft» verwenden wolle, ging es sehr schnell. Auf einer ausserordentlichen Mitgliederversammlung am 3. Juni 1935, die unter dem Zwingli Motto stand «Tut um Gottes Willen etwas Tapferes» wurde beschlossen, die Alte Kirche von der Stadt Zürich zu einem Betrag von 2460 Fr. jährlich zu mieten.
«Das alte Kirchlein Fluntern wurde am Montag durch eine intime Feier seiner neuen Zweckbestimmung übergeben. Prof. Frauchinger, der Präsident der Kirchgemeinde pries in einem kurzen Begrüssungswort das Gefühl der Pietät, das in der Aktion zur Wiedergewinnung des Kirchleins spontan zum Ausdruck kam …» (NZZ, 2.10.1935)
Damit war die Alte Kirche wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung zugeführt, das Intermezzo als «Kulturhaus» beendet.
Ganz ohne Kultur blieb die Alte Kirche allerdings auch danach nicht. Noch im Oktober schenkte die Firma Hug der Kirchgemeinde Fluntern für die «Alte Kirche» ein «wertvolles Klavier», damit dort «Musikvorträge» stattfinden konnten und zwei Jahre später wurde eine Hammondorgel für 50 Franken im Monat gemietet. Auch für die Sonntagsschule, wie zu den Zeiten ihrer Entstehung, wurde die «Alte Kirche» genutzt.
Eigentümerin aber blieb die Stadt Zürich. Und auch der Passus Erhalt der Kirche «bis zur Freilegung der Baulinie» behielt seine Gültigkeit.
Mut und Weitsicht
Mitten im 2. Weltkrieg, im März 1942, wurde aus der Kirchgemeinde heraus eine Initiative zum Rückerwerb der «Alten Kirche» von der Stadt Zürich gestartet. Im November 1943 kaufte die Kirchgemeinde Fluntern die «Alte Kirche» zurück und begann zügig mit einer gründlichen Renovation. Mit 86000 Franken war sie budgetiert, 117000 Franken kostete sie schliesslich. «Die Architekten Robert Hürlimann, Hans von Meyenburg und Eberhard Eidenbenz haben die Innen- und Aussenrenovation so stil- und geschmackvoll besorgt, dass die Fluntermer jetzt wieder voll Stolz auf ihr mit einem goldenen Gockel geschmücktes Kirchlein sehen … Wer nun seinen Blick von der Linde zum Kircheneingang wendet, kann das Idyll eines nistenden Schwalbenpärchens beobachten». (Tages-Anzeiger 24.10.1944)
Die Renovationskosten von fast 120000 Franken, 18000 steuerte der Kanton als Subvention bei, waren eine für die damalige Zeit enorm hohe Summe. Aber es war gut investiertes Geld. Zunächst erhielt die Kirchgemeinde mit 600 qm nun ein doppelt so grosses Areal als jenes, das sie 1907 der Stadt Zürich im Tausch übereignet hatte.
«Es ist unseren Vorfahren für ihre Weitsicht zu danken, dass sie 1944 das alte Kirchlein von der Stadt zurückgekauft haben», so Ralph Kühne, Präsident der Kirchenpflege 2012.
Vor allem aber erwies sich jetzt wieder die Grösse der «Alten Kirche» als Vorteil.
Das hatte zunächst ganz praktische Gründe.
Während des 2. Weltkrieges war in der Schweiz der Energieverbrauch stark kontingentiert, die «Grosse Kirche» im Winter deshalb nicht zu heizen. Die Gottesdienste wurden deshalb vermehrt wieder in der kleinen «Alten Kirche» abgehalten. So avancierte das «alte Kirchlein» aus dem Jahre 1763 wieder zum Zentrum des Gemeindelebens der evang.-ref. Kirchgemeinde Fluntern. Nur für kurze Zeit allerdings. Als die Energiekontingentierung aufgehoben wurde, verlagerte sich das Gemeindeleben rasch wieder zur «Grossen Kirche».
Brennpunkt Kirche Fluntern
In den sechziger Jahren geriet die «Alte Kirche» plötzlich in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Und nicht nur Flunterns, sondern von ganz Zürich.
Damals sollte der Vorderberg abgerissen werden, um einer Hochleistungskreuzung vergleichbar jener am Bucheggplatz zu weichen.
«Man ist geneigt, an eine schrullige Seldwylerei zu denken», kommentierte der Tages-Anzeiger dieses Vorhaben damals. Zwar war die «Alte Kirche» selbst nicht vom Abriss bedroht, aber das historische Ensemble von «Forsterhaus», «Gesellenhaus», «Wirtschaft zum Vorderberg» und «Alter Kirche» wurde von den Abrissgegnern als eine architektonische Einheit gesehen.
Um die «Alte Kirche» formierte sich der Widerstand gegen den Abriss des Vorderberges. In einer Motion forderte Gemeinderat Martin Usteri im Mai 1962 vom Stadtrat: «Es sei eine Vorlage zu beschliessen, durch welche … die Häuser am Vorderberg erhalten und samt der alten Kirche Fluntern unter Heimatschutz gestellt werden …» Diese Motion wurde von der Mehrheit des Gemeinderates abgewiesen. Im September 1962 entschied sich der Gemeinderat für den Abriss des Vorderbergs. Gegen diesen Beschluss lancierten die Abrissgegner eine Volksabstimmung.
In dem für die damalige Zeit erbittert geführten Abstimmungskampf wurde die «Alte Kirche» zum Symbol des Widerstandes gegen den Abriss des Vorderberges. Bei der Abstimmung im Dezember 1962 lehnte die Mehrheit der Stimmbürger schliesslich den Abriss ab. In Fluntern waren es 70%, die für den Erhalt des Ensembles am Vorderberg und der «Alten Kirche» stimmten.
Die Kirche im Dorf
Es war, wie sich in den folgenden Jahren herausstellen sollte, allerdings nur ein Teilerfolg.
Einst bildeten die Kirchen das Zentrum einer Stadt, eines Dorfes. Diese Funktion hatte auch die «Alten Kirche» für Fluntern. Zusammen mit dem «Gesellenhaus», der «Wirtschaft zum Weingarten» oberhalb der Kirche und den «Hürlimannhäusern» unterhalb der Kirche bildete sie das historische Zentrum, die Seele Flunterns. Dieses Zentrum existiert nicht mehr. Denn nach der Verhinderung des Abrisses vom Vorderberg entstand in den sechziger Jahren die «Insel Vorderberg». Damit wurde die Kirche von ihrem historischen Kern abgetrennt, an die Seite gedrängt. Zum dritten Mal in ihrer Geschichte schien damit die «Alte Kirche» ihre Funktion zu verlieren.
Symbol der Auferstehung
Umso erstaunlicher ist die Entwicklung, die die «Alte Kirche» in den letzten Jahren genommen hat. «Sie ist», so Thomas Grossenbacher, Pfarrer der evang.-ref. Kirchgemeinde, «einmal zum hässlichen Entlein und neben der grossen, jungen Schwester zu klein geworden, mit gutem Recht wieder zu Ehren gekommen.»
Gewissermassen als äusseres Zeichen dieser wiedergewonnenen Bedeutung schmückt seit 1999 das Auferstehungskreuz, eine Stahlplastik von Silvio Mattioli, den Kirchenraum.
Eine Fülle von Aktivitäten findet inzwischen wieder hier statt.
Als «Jugendtempel» wurde sie einst errichtet. Heute scheint sie wieder zu ihrer ursprünglichen Funktion zurückzukehren: «Fiire mit de Chliine», «Kolibri», die Jugendgottesdienste oder das «Morgengebet mit der Taizéliturgie» richten sich auf die speziellen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen aus. Aber auch Abdankungen und Hochzeiten finden vermehrt in der «Alten Kirche» statt. Und ihre gute Akustik lässt sie zu einem begehrten Aufführungsort für Orgelkonzerte oder des Gospelchors werden.
Diese Renaissance der «Alten Kirche» allerdings ist bei genauerer Betrachtung nicht erstaunlich.
Auch die evang.-ref. Kirchgemeinde Fluntern leidet seit Jahren unter abnehmenden Mitgliederzahlen. Die «Grosse Kirche» kann so nur noch selten gefüllt werden. Zudem haben sich die Bedürfnisse der Gemeindemitglieder gewandelt. Gefragt ist heute ein mehr an Begegnung, ein mehr an Nähe. Dafür bietet die «Alte Kirche» gute Voraussetzungen.
«Die Menschen sind näher beisammen, man kann die Stühle wegschieben, beim ”¹Fiire mit de Chliine”º sitzen die Kinder auf Teppichen und Kissen auf dem Boden. An den Fenstern sieht man die Trams vorbeifahren, eine ständige Erinnerung an das Leben in der Stadt, zu dem auch die Kirche gehört.», beschreibt Tania Oldenhage, Pfarrerin in der evang.-ref. Kirche, die Chancen, die der Raum des 250 Jahre alten «Bethauses» für das Gemeindeleben bietet. Ganz ähnlich sieht es Ralph Kühne, der Präsident der Kirchenpflege Fluntern: «Die übersichtliche Raumgestaltung in der ”¹Alten Kirche”º ermöglicht modulare und flexible Verwendungszwecke. Das ist eine einmalige Chance, um die unausweichliche Neuausrichtung der kirchlichen Aktivitäten auf die gewandelten Bedürfnisse und Ansprüche der Gemeindemitglieder realisieren zu können».
Um diese «einmalige Chance» nutzen zu können bedarf es wieder Umbauten und Renovationen.
Pläne dafür erarbeitet Sasha Bietenholz. Ihr Credo heisst: «Die Kirche muss wieder in die Mitte des Dorfes». Deshalb sollen bislang verschlossene Türen geöffnet, eingebaute Decken und Täfer entfernt, die Vorplätze nutzbar gemacht werden.
Alles soll heller und freundlicher werden, die Menschen so auch ausserhalb von Gottesdiensten und Veranstaltungen zu einem Besuch einladen.
Eines soll jedoch bleiben wie es ist: Das Zentrum der Kirche, der Kirchenraum. Sasha Bietenholz: «Einfach war er, einfach und schlicht soll er bleiben.»
Martin Kreutzberg