Der Wein — Flunterns Grundnahrungsmittel
Es geschah an einem schön Sonntagvormittag im Spätherbst des Jahres 2015. Am 25. Oktober trafen sich gegen 150 Einwohner von Fluntern und pflanzten zehn Rebstöcke auf dem Hügel unterhalb der Grossen Kirche. Entgegen dem ausdrücklichen Verdikt ihrer Obrigkeit, des Stadtrates von Zürich. Ein Akt zivilen Ungehorsames für das gutbürgerliche Wohnquartier am Fusse des Zürichbergs. Vergleichbares lag über 50 Jahre zurück. Im Dezember 1962 hatten die Fluntermer gegen den Abriss des Vorderbergs mit einem Fackelzug protestiert. Diesmal jedoch sollte nichts verhindert, sondern etwas Neues in Angriff genommen werden.Im Jahre 2011 hatten die drei grössten Organisationen von Fluntern, die evang.-ref. Kirche, der Quartierverein und die Zunft Fluntern das Projekt der Errichtung eines Rebberges lanciert. Erst stimmte der Stadtrat zu, um wenig später seinen eigenen Beschluss zu kippen. Dagegen wehrten sich die Fluntermer und pflanzten, anknüpfend an die uralte Tradition des Weinbaus in Fluntern, demonstrativ jene zehn Rebstöcke.
Der Räuschling
Über Jahrhunderte war der Weinbau der wichtigste Erwerbszweig in Fluntern. Heute erinnert nur noch der Name eines kleinen Weges, des Irrnigersteiges, an jene Tradition.
Bis auf über 600 Metern Höhe wurde Wein angebaut. Wein war das Hauptgetränk. Er konnte, anders als Milch, auch gelagert werden. Ausserdem war Wein hygienisch sicherer als Trinkwasser, das früher nicht überall ohne Bedenken getrunken werden konnte.
In Fluntern wurden meist weisse Rebsorten angebaut. Hauptsächlich die Zürirebe, auch – nomen est omen – «Räuschling» genannt. Er war robust, ziemlich sauer, aber gut haltbar. In den ertragreichsten Jahren wurden in Fluntern bis zu 85000 Liter Wein gekeltert.
Rebland wird Baugrund
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann sich das Ende des Fluntermer Weinbaus abzuzeichnen. Dank der neuen Verkehrsverbindungen gelangte zunehmend Wein aus Italien und Frankreich nach Zürich. Er war besser und billiger als der heimische Räuschling. Dies führte zu einem Preissturz. Manche Bauern mussten ihren gesamten Weinvorrat verkaufen, um nicht zu verhungern. Daher wurde ausgedrücktes Traubenmaterial mit viel Zucker im Fass vergoren, was zu einem gefälschten Wein mit sehr hohem Alkoholanteil führte, für den mitunter weniger als für Milch gezahlt werden musste. Ein starker Anstieg des Alkoholismus war die Folge. Nicht sehr verwunderlich, dass auch in Fluntern eine intensive Antialkoholkampagne zunehmend an Einfluss gewann: 1889 eröffnete Pfarrer Walter Bion sein «Erholungsheim für «minderbemittelte rekonvaleszente Männer und Frauen» am oberen Zürichberg, 1891 gründete der «Verein für Volksgesundheit» sein «Licht- und Sonnenbad», 1890 der «Zürcher Frauenverein für alkoholfreie Wirtschaften» das Hotel «Zürichberg» und 1904 Bircher Benner das Sanatorium «Lebendige Kraft» – alle streng antialkoholisch.
Ausschlaggebend für das Ende des Weinbaus in Fluntern war jedoch, dass der Zürichberg als Wohnort für die «besseren Schichten» interessant wurde, die Stadt mit immer neuen Überbauungen den Hügel hinauf drängte. Grundstück um Grundstück wurde verkauft und brachte den Bauern weit mehr Gewinn als die Mühsal des Weinbaus ein. Rebberg um Rebberg verschwand. Bis auf einen. Und das war nicht nur ein Zufall.
Der Segen der Kirche
Oberhalb des Hügels hatte sich vor 100 Jahren die evang.-ref. Kirchgemeinde ihre neue Grosse Kirche bauen lassen. Gerne hätte sie den darunter liegenden Rebhügel auch erworben. Der Aussicht wegen. Vergeblich. Immerhin waren Flunterns Kirchenobere damals so vorausschauend, dass sie sich von der Stadt Zürich den freien Blick von ihrer und auf ihre Kirche zusichern liess. Mitte der zwanziger Jahre tauchten aber dann doch auf dem Hügel jene Stangen auf, die eine geplante Überbauung signalisieren. Dazu kam es nicht. «Am 2. Oktober 1929 konnte die Stadt mit den Eigentümern des ganze Grundstückes, der Erbengemeinschaft des Kaspar Bruppacher einen Kaufvertrag über den Erwerb von 4722,3 Quadratmetern Reben und Bord an der Gloria- und Voltastrasse, um den Preis von 22000 Franken abschliessen.», wie Nicola Behrens vom Stadtarchiv Zürich ermittelte.
Die Reben auf dem Hügel störte der Besitzwechsel nicht. Sie wuchsen und gediehen weiter. 1938 war dies sogar der NZZ einen Bericht wert: «Der rückenmarkstolze Grossbauer». Bis im Jahre 1940 ist das Grundstück im Inventar der Liegenschaften der Stadt Zürich als Rebland aufgeführt. Eines Tages jedoch verschwanden die Reben vom Hügel. Und seit 1943 wird Flunterns letzter Rebhügel nun als «Wiesland» bezeichnet.
Weg mit den Schafen
Mit den Jahren wurde der Rebhügel zu einer Wiese, ordentlich gemäht von der Stadt Zürich. Bis der damalige Stadtpräsident Sigmund Widmer auf die Idee kam, dass diese Arbeit umweltfreundlich ja auch Schafe leisten könnten. Die Schafe kamen und leisteten ihren Beitrag zur Pflege des Hügels. Sie gehörten schon fast zum Ortsbild von Fluntern, bis einem Menschen auffiel, dass Flunterns Schäfchen ja unterschiedslos alle Gräser auf dem Hügel frassen, die guten und die schlechten. Also mussten sie weg …
Heute präsentiert sich der Hügel dreigeteilt: Oben ein Spielplatz, sorgfältig erhalten und gepflegt von Grün Stadt Zürich, sicher einer der am schönsten gelegenen, zugleich aber am wenigsten genutzten Spielplätze der ganzen Stadt, in der Mitte ein breiter, flacherer Teil und ganz unten ein steiles Stück direkt an der Gloriastrasse.
Zurück zu den Wurzeln
Angeregt von der erfolgreichen Revitalisierung des Rebbaus in einem anderen Zürcher Stadtquartier, in Höngg, wollte 2011 eine Gruppe Fluntermer – die Zunft Fluntern, der Quartierverein und die evang.-ref. Kirche – gemeinsam wieder an jene uralte Tradition des Weinbaus anknüpfen und den mittleren Teil des Hügels mit Reben bepflanzen. Zeitgemäss natürlich auf biologischer Basis. «Auf der in städtischen Besitz befindlichen Wiese unterhalb der evangelisch reformierten Kirche Fluntern, oberhalb der Gloriastrasse, soll ein Rebberg nach den neuesten ökologischen Kriterien und den Prinzipien des biologischen Rebbaus errichtet werden.» (Einzelinitiative Hans Diehl vom 4.2.2014)
Kommissionen kamen und berieten, Experten begutachteten, die Fluntermer, die den Rebberg auch als identitätsstiftend betrachteten, erklärten sich unter fachkundiger Anleitung bereit, im Weinberg mitzuarbeiten. Denn, so die Idee der Initianten, der Rebberg sollte zu einem Ort der Begegnung für die Bevölkerung von Fluntern werden, dem Zürcher Quartier, das mit dem Umbau des Vorderbergs zu einem Verkehrsknoten sein historisches Zentrum verloren hatte. Selbst die Abnahme des künftig hier produzierten Weins war schon geregelt. Die Freude war gross, als im Juli 2013 der Stadtrat beschloss: Der Weinberg kommt. Es «wurde festgestellt, dass trotz der Anlage eines Rebbergs auf einer Teilfläche des Inventarobjekts dessen ökologischer Wert erhalten, wenn nicht sogar gesteigert werden kann …» Und: «… durch den Einbezug der Quartierbevölkerung unter der fachlichen Leitung des städtischen Gutbetriebs Juchhof ist eine Sensibilisierung der Bevölkerung für die Naturwerte beispielhaft möglich.» (Beschluss des Stadtrates vom 10.7.2013)
Der Sieg des Gewöhnlichen Widderchens
Sensibilisiert wurde die Quartierbevölkerung. Allerdings weniger beispielhaft. Ganze vier Monate später, am 20. November, kassierte der Stadtrat seinen eigenen Beschluss und erklärte ihn zur Makulatur: «Bei der Wiese handelt es sich um eine Magerwiese von hohem ökologischem Wert. Der Lebensraum ist bedeutsam für regional und in der Stadt selten gewordene Pflanzen- und zahlreiche Insektenarten, insbesondere für das Gewöhnliche Widderchen» … (Beschluss des Stadtrates der Stadt Zürich vom 20.11.2013)
Es gab Proteste, Petitionen, Motionen und eben jenen Akt zivilen Ungehorsams. Inzwischen allerdings droht das Projekt «Rebhügel» im Gestrüpp der Institutionen zu verganden. Jetzt sollen die Gerichte entscheiden. Und vor Gericht und auf hoher See ist man, wie eine Volksweisheit behauptet, in Gottes Hand.
Martin Kreutzberg