Krach an der Platte
Gerhart Hauptmann reist gerne. Vorzugsweise in Richtung Süden. Im Januar 1888 verlässt der 28 Jährige seinen Wohnsitz in Erkner bei Berlin und fährt mit Frau, den Söhnen und der Kinderfrau nach Zürich. Nicht, ohne sich vorher von seinem Schwager mit 4800 Goldmark Reisegeld ausstatten zu lassen. In Zürich nimmt er Quartier bei seinem Bruder Carl in der Freien Strasse 76.Als Schriftsteller ist Hauptmann bisher kaum in Erscheinung getreten. Zwar hat seine Novelle «Bahnwärter Thiel» für einige Aufmerksamkeit in der Literarturszene gesorgt, aber er selbst bezeichnet sich, als er sich in Zürich anmeldet, als «Bildhauer».
Die Familie Hauptmann absolviert das übliche touristische Programm: Besucht den «Sechseläuten-Umzug», pilgert zu Georg Büchners Grab am Rigiblick, reist zum Vierwaldstättersee und auf den Gotthard.
Wichtig werden für Gerhart Hauptmann die Kontakte, die ihm Bruder Carl, der in Zürich gut vernetzt ist, vermittelt. Zu dem Physiologen Justus Gaule etwa oder, für sein späteres schriftstellerisches Werk von grosser Bedeutung, zu dem Psychiater Auguste Forel.
Und er macht Bekanntschaft mit Frank Wedekind. Der wohnt ganz in der Nähe in der Plattenstrasse 35.
Auch Wedekind befindet sich noch am Anfang seiner schriftstellerischen Laufbahn. Zwar sind einige Texte von ihm im Feuilleton der NZZ erschienen, aber seinen Lebensunterhalt verdient er als Werbetexter der Firma «Maggi&Co»: «Ich schreibe von früh bis spät in meiner Mansarde Leitartikel über frische Rebhühner, um mir Abends meinen Thee mit einer Wurst verherrlichen zu können» (Maggi-Archiv Kemptal)
Zwischen den beiden fast gleichaltrigen Männern entwickelt sich, zumindest Wedekind glaubt das, so etwas wie eine Freundschaft. «In Zürich verkehrte damals» so Wedekind 1911, «so ziemlich alles, was sich in der jungen Literatur hervortat oder hervortun wollte. Es war ein hervorragendes geistiges Zentrum.» Wedekind führt Hauptmann in die Zürcher Szene ein. Und er schüttet ihm sein Herz aus, schildert ihm den massiven Konflikt mit seinen Eltern. Der Vater, Schlossherr auf der Lenzburg, hatte entdeckt, dass Sohn Frank die väterliche Unterstützung nicht für ein Jurastudium, sondern für Restaurant- und Theaterbesuche verwendete. Er strich ihm jede Unterstützung und Frank musste sein Brot von heute auf morgen selbst verdienen. Eben als Texter für Maggi. All das erzählt Frank Wedekind Gerhart Hauptmann. Und ist entsetzt, als er erfährt, dass Hauptmann diesen Familienstreit in sein Theaterstück «Friedensfest» eingebaut hatte und zwar in allen Einzelheiten, sodass seine Angehörigen sich dort wiederentdecken konnten. Ein Vertrauensbruch.
Wedekind revanchiert sich. Auch literarisch. Ein Auszug: «Karl: Das einzige, was ich damals in Zürich brauchte, war ein Freund, dem gegenüber ich mich aussprechen konnte. Er war mir wirklich ein Seelentrost… Anna: Ich hätte diesen Dichter nie einer menschlichen Empfindung für fähig gehalten. Karl: Und dieser Mensch geht hin und setzt meine Seelenergüsse Wort für Wort seinem Publikum als realistische Delikatesse vor. Anna: Wenn sich der Realismus überlebt hat, werden seine Vertreter ihr Brot als Geheimpolizisten finden…» (Frank Wedekind «Kinder und Narren»).
Ende einer Freundschaft.
Im September 1888 verlässt Hauptmann Zürich. Auf einem Dreirad. Und radelt seinem Ruhm entgegen. Am 20. Oktober 1889 kommt es zur Uraufführung seines Stückes «Vor Sonnenaufgang» im Berliner Lessingtheater. Sie geht in die Theatergeschichte als «Schlacht zwischen Gegnern und Anhängern des Naturalismus» ein. Hauptmann siegt und wird gefeiert. 40 weitere Theaterstücke folgen. Als letztes wird, 44 Jahre nach seinem Tode, 1990 «Christiane Lawrenz» uraufgeführt. Am Schauspielhaus Zürich.
Bei Frank Wedekind ist der Weg zum Ruhm länger. Und steiniger. Als er 1888 im «Simplicissimus» ein satirisches Gedicht auf Kaiser Wilhelm II. veröffentlicht, wird er verhaftet und zu sechs Monaten «Festungshaft» verurteilt. 1906 inszeniert dann Max Reinhardt in Berlin sein «Frühlingserwachen». Die Aufführung wird zur Theatersensation, Wedekind schlagartig weltberühmt.
Martin Kreutzberg, 2021