Herrgott, wie schön ist das Leben
Es gibt wohl kaum eine andere Persönlichkeit der neueren Geschichte, an der sich die Geister derart diametral scheiden, wie an Rosa Luxemburg. Für die einen ist sie die «rote Rosa», die Kommunistin, verhasst bis heute. Für die anderen eine «Gallionsfigur» für die Ideale einer weltumspannenden sozialistischen Gesellschaft. Sie tragen ihren Satz «Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden» wie einen Banner vor sich her.Als die 18 jährige Rozalia Luxemburg 1889 Zürich erreicht, hat sie eine lange und beschwerliche Reise hinter sich. Aus Warschau, das damals zum russischen Zarenreich gehört, kommt sie. Schmuggler sollen sie über die russisch-deutsche Grenze bringen. Dort ergeben sich Probleme: «Da griff Kasparek zu einer Kriegslist. Er suchte den katholischen Pfarrer des Ortes auf und stellte ihm vor, ein jüdisches Mädchen habe den heissen Wunsch, Christin zu werden, könne dies aber nur im Ausland vollbringen, da ihre Angehörigen sich heftig widersetzten». (Frölich, Gedanke und Tat, S.29) Der Pfarrer half: «Auf einem Bauernwagen, unter Stroh versteckt, fuhr Rosa Luxemburg über die Grenze.»
Es ist eine «Notlüge», Rozalia will studieren. Im Zarenreich kann sie das nicht. Dort dürfen Frauen eine Universität nicht einmal betreten.
An Zürichs Universität, der ersten überhaupt in Europa, ist für Frauen ein Studium möglich. Entsprechend gross ist ihre Anziehungskraft auf Frauen aus ganz Europa. Ricarda Huch, Lou Andrea Salomé, Alexandra Kollontai oder Anita Augspurg studieren hier. Nadezda Suslowa promoviert als erste Frau in Medizin, Marie Heim-Vögtlin ist die erste Schweizer Ärztin, es promovieren zu der Zeit Emilie Kempin-Spyri oder Meta von Salis.
Rozalia Luxemburg, die sich jetzt Rosa nennt, findet Unterkunft im angesagten Studentenquartier an der Platte. Von der Plattenstrasse 47 ist es nicht weit zur Universität und vor allem ins Niederdorf. Dort befindet sich im ehemaligen Zunfthaus der Schumacher am Neumarkt 5, heute Domizil des Neumarkttheaters, der Arbeiterbildungsverein «Eintracht» mit einer Bibliothek, einem Lesesaal und einem Hörsaal für Vorträge. Für Rosa Luxemburg wird er neben der Universität zur zweiten Bildungsstätte. Und sie wird politisch aktiv, engagiert sich bei der Gründung der «Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens». Ihr Studium der «Nationalökonomie» schliesst Rosa Luxemburg 1898, als erste Frau in diesem Fach, mit einer «magna cum laude» bewerteten Dissertation ab.
Rosa Luxemburg, durch eine Scheinheirat preussische Staatsbürgerin geworden, zieht nach Berlin. Intellektuell bestechend und rhetorisch brillant wird die nur 1.50 m grosse Frau, die in Versammlungen schon einmal auf einen Stuhl steigen muss, um sich Gehör zu verschaffen, rasch zu einer Wortführerin des linken Flügels der SPD. Verhasst und bewundert. 1914 lehnt sie als überzeugte Internationalistin den Kriegseintritt des deutschen Kaiserreichs ab, bekämpft zusammen Clara Zetkin und Karl Liebknecht vehement den «Burgfrieden», den ihre Partei, die SPD, mit dem Kaiserreich geschlossen hat, gehört zu den Gründerinnen des marxistischen «Spartakusbundes», der späteren KPD.
Und sie muss dafür bezahlen. Mehrfach inhaftiert wird im Juli 1916 über sie «im Interesse der öffentlichen Sicherheit bis auf Weiteres die militärische Sicherheitshaft verhängt.»
Aus dem Gefängnis schreibt sie an ihren Freund Hans Diefenbach:» O, dieser blaue, traumhaft schöne Genfer See. Jetzt habe ich ihn drei Jahre nicht gesehen. Wissen Sie noch, welche Überraschung man erlebt, wenn man nach der öden Strecke Bern – Lausanne und einem furchtbar langen Tunnel plötzlich über der grossen blauen Tafel des Sees schwebt? Jedesmal flattert mir das Herz wie ein Falter…. Und über allem der blendende, mächtige Dent de Midi. Wie Balsam giesst sich dort die Luft und Ruhe und Heiterkeit jedesmal in meine Seele. Herrgott, wann werde ich wieder den April dort erleben?» (Luxemburg an Diefenbach, 8.3.1917)
Rosa Luxemburg wird den Genfer See nie mehr sehen. Am 15. Januar 1919 werden sie und Karl Liebknecht von Soldaten der «Garde-Kavallerie-Division» im Berliner Hotel «Eden» ermordet.
«Kein Denkmal, kein Platz, keine Strasse erinnert heute in Zürich an Rosa Luxemburg. Einzig an der Plattenstrasse 47 informiert eine Plakette….Warum geht die Stadt Zürich mit einer der brillantesten Intellektuellen, die je hier geforscht, hier ihr Denken geformt haben, so verdruckst, so bescheiden, so heimlich um?» (Melinda Nadj Abonji in: Republik 14.6. 2019)
Martin Kreutzberg 2021