Haupträdelsführer
Gottfried Semper (1803-1879), der wohl berühmteste Architekt des 19. Jahrhunderts und Erbauer des Polytechnikums in Zürich, war schon mit 31 Jahren (1834) Professor der Baukunst an der Königlichen Akademie der bildenden Künste in Dresden und Direktor der dortigen Bauschule. Somit wäre dem Familienvater und erfolgreichen Architekten eine glanzvolle und sicherlich ruhigere Laufbahn beschieden gewesen, hätte er sich nicht 1849 am Dresdner Maiaufstand gegen die preussische Regierung beteiligt. Semper baute für die Aufständischen eine solide Barrikade, die dem Sturm der preussischen Truppen standhalten sollte. Dieses fast nicht einzunehmende Bollwerk wurde Gottfried Semper von der sächsischen Regierung zur Last gelegt. Sie erliess wenige Tage nach der Niederschlagung des Aufstands einen Steckbrief gegen den «Demokraten 1. Klasse» und «Haupträdelsführer» und Semper musste fliehen.Zunächst nach Paris, wo ihn ärmliche Verhältnisse erwarteten, dann nach London. In der Themsestadt erhielt er erst 1852 einen Lehrauftrag am Departement of Practical Art der School of Designs. Ein Broterwerb war somit gefunden, um sich und seine Familie durchzubringen. Sein Herzenswunsch jedoch, bauen zu können, war in weite Ferne gerückt.
Da erreichte ihn im Herbst 1854 der Ruf nach Zürich ans neu gegründete Polytechnikum. Im Februar 1855 wird er zum Professor auf Lebenszeit ernannt und bleibt bis zu seinem Weggang 1871 erster Direktor der hiesigen Bauschule resp. Architekturabteilung. Nicht nur diese lukrative Anstellung auf Lebenszeit als Professor, sondern auch der Bauboom im jungen Bundesstaat dürften den Baukünstler Semper dazu bewogen haben, in die Schweiz zu ziehen. Semper konnte damit rechnen, in Zürich den prestigeträchtigen Auftrag für den Bau des Polytechnikums zu erhalten.
Erstaunlicherweise hat Gottfried Semper aber weder mit der Errichtung des Polytechnikums, der Sternwarte noch des Stadthauses in Winterthur, (um seine drei wichtigsten Bauten in der Schweiz zu nennen), sondern mit der Instandstellung des Kirchturms in Affoltern am Albis eines seiner für ihn persönlich wertvollsten Bauwerke erschaffen. Nicht architektonisch gesehen, sondern biographisch, sollte sich doch diese kleine Auftragsarbeit für ihn mehr als lohnen.
«Mit Kirchturm zum Bürgerrecht»
Im Juli 1860 hatte Semper einen Brief von Pfarrer Denzler aus Affoltern am Albis erhalten. Der emsige Pfarrer bat den Baukünstler um einen Plan für eine solide Bedachung des reparaturbedürftigen Kirchturms von Affoltern, denn die Gemeinde hatte ein neues Geläut erhalten. Semper sagte zu, wohl auch, weil seinem Sohn Manfred, der am Polytechnikum Architektur studierte, noch die Baupraxis fehlte.
Semper entwarf einen Turm mit einem treppenförmigen Giebel, den Manfred Semper als Bauleiter nach den Plänen seines Vaters ausführte. Rund 15 Monate später, am 20. Oktober 1861, konnte der neue Kirchturm zur Freude der Affolterer eingeweiht werden.
Und wie bedankte sich die Gemeinde, die keinen Sold zahlen konnte, bei dem berühmten Architekten?
«Sehr geehrter Herr Professor!
Durch heute gefaßten Gemeindebeschluß wurde Ihnen durch Schenkung das Bürgerrecht hiesiger Gemeinde ertheilt. Indem wir Ihnen dieses vorläufig zur Kenntniß bringen, werden wir die Bürgerrechtsurkunde Ihnen zusenden, sobald die Rekursfrist abgelaufen und der Beschluß in Kraft getreten ist. Genehmigen Sie die Versicherung unserer Hochachtung namens des Gemeinderathes:
Affoltern am/Al. den 10 ten Nov: 1861.
Der Präsident H. Weiss Der Gemeindeschreiber G. Schneebeli»
Semper, der in Sachen Salär nicht gerade bescheidene Forderungen stellte, erhielt mit der Schenkung des Bürgerrechts damit eine weit wertvollere Entschädigung als manches noch so hohe Honorar. Denn mit diesem Bürgerrecht konnte er, der seit 1849 Flüchtling und steckbrieflich gesucht war, endlich wieder sicher in sein geliebtes Deutschland reisen.
Monica Bussmann, in: ETHeritage 2.9.2016