Der rückenmarkstolze Grossbauer

Vor einigen Jahrzehnten, als die kalten Häuserburgen noch nicht ihren Marsch auf den Zürichberg angetreten hatten, waren die Rebberge in der ehemaligen Gemeinde Fluntern keine Seltenheit. Traulich grünten sie ob der Stadt, die zu ihren Füssen lag. Heute, da die Zivilisation die Natur immer rücksichtsloser verdrängt und herrisch von Wiesen, Wald und Äckern Besitz ergreift, sind sie so rar geworden, dass sie bald nur noch auf Bildern zu sehen sein werden. Drei Villenbesitzer an der Zürichberg- und Spyristrasse, sowie am Häldeli unterhalten noch heute Reben, da sie Liebhaber einer eigenen Weinkultur sind; das grösste Areal, das direkt unterhalb der neuen Kirche Fluntern liegt, gehört jedoch seit mehreren Jahren der Stadt Zürich, die es nach dem Beschluss der Kirchgemeinde Fluntern auf dem Expropriationsweg von einer Familie B. erworben hat. Der Zweck dieser Enteignung war, das ziemlich steil gegen die Stadtabfallende Gebäude vor Überbauungen zu schützen, damit die schöne Aussicht vom Kirchplatz aus ungefährdet bleibt. In diesem Sinne wurde auch ein Servitut errichtet.
Wir kamen mit dem jetzigen 76jährigen Pächter in der kleinen Wirtschaft ins Gespräch, die sein Urgrossvater gegründet hat. Er erzählte uns, dass in der Gemeinde Fluntern seit mindestens einem Jahrtausend Reben gezüchtet werden. Der Weinberg unterhalb der neunen Kirche Fluntern befand sich ungefähr drei Jahrhunderte lang im Besitz der Familie B., deren Stammbaum bis 1346 nachweisbar ist …
Der heutige Pächter bewirtschaftet grosse Ländereien; er besitzt acht Kühe, vier Pferde und Bienen, die samt den Wiesen, Äckern und Gärten von vier Knechten und zwei Taglöhnern besorgt werden. Mit dem rückenmarkstarken Stolz des Grossbauern versicherte er uns, er mache alles gerade so, wie es ihm passe. Dieser Stolz mag es auch sein, der ihn treibt, den 4700 Quadratmeter grossen Rebberg weiterhin zu unterhalten; denn der kommt ihn bei den hohen Löhnen und dem fünfmaligen Spritzen mit Kupfervitriol teurer zu stehen als die anderen Weine, die er in seiner Wirtschaft ausschenkt. Der Ertrag schwankt von maximal 45 Hektoliter bis einige hundert Liter. … Der Wimmet fand dieses Jahr an drei Nachmittagen der vergangenen Woche statt; ein Dutzend Männer und Frauen beteiligten sich an dieser in der Stadt Zürich nur noch an wenigen Hängen vorgenommenen Arbeit, die gewiss manchen Zuschauer etwas elegisch stimmt, da auch sie wohl einmal dem Landhunger der Grossstadt zum Opfer fallen wird. Schon haben die Häuser an der Gloriastrasse den nächstliegenden Reben die Mittagssonne geraubt, sodass sie nicht mehr ausreiften und gegen einen Grünstreifen ausgetauscht wurden.
Wer aber den «Flunterner» liebt, im Sauserstadium oder ausgegoren, wandert noch immer zur dämmrigen Wirtschaft bei der alten Kirche Fluntern, um dort einen stadtzürcherischen Schoppen vor sich aufpflanzen zu lassen.

NZZ 4.10.1938