Der Glaube braucht zu jeder Zeit andere Ausdrucksformen
«Ein Sonntagsgottesdienst von 40 Gemeindemitgliedern in einem für 1000 Personen konzipierten Raum ist für die Anwesenden schwer zu ertragen. Abgesehen von dem Empfinden von Leere und Einsamkeit in einem solchen Raum, sind die Betriebskosten ökonomisch kaum zu verantworten … Phantasie und Fachwissen der Architekten ist auf Entwürfe zu verwenden, in denen die Gemeinde von morgen ihren Platz finden kann» (Horst Schwabel, Bauwelt 7/1989, S. 232–233)Vor diesem Problem steht seit Jahren auch die evang.-ref. Kirchgemeinde Fluntern. Als 1920 ihre neue Grosse Kirche eingeweiht wurde, waren 70% aller Einwohner/innen von Fluntern Mitglieder der Kirchgemeinde Fluntern. Danach nahm diese Zahl kontinuierlich ab. Mit Folgen: Auch die Kirche Fluntern wurde zu gross für immer weniger Gemeindemitglieder. Im September 1970 reagierte die Kirchenpflege und erteilte sechs Architekten den Auftrag, Vorschläge für eine Umgestaltung des Inneren ihrer Kirche zu erarbeiten. Und zwar für eine Neugestaltung des liturgischen Zentrums der Kirche, eine neue Bestuhlung der Kirche mit 300 Plätzen ohne die Seitenschiffe und eine Gestaltung der Emporebrüstungen mit Vorhängen, Beleuchtung, Farbgebung und Bodenbelägen.
Die eingereichten Vorschläge der Architekten hielten sich eng an diese Vorgaben. Sie konzentrierten sich auf eine Reduzierung des engeren Kirchenraums und seine mögliche Mehrfachnutzung:
«Ersatz der bestehenden, thronartigen Kanzel … Die Bänke sind zu starr und wenig einladend und sollten durch bewegliche Bestuhlung, durch Holzstühle ersetzt werden … Der vorhandene Kirchenraum kann … durch eine einfache Massnahme in einen dem Charakter eines Kirchgemeindesaales entsprechenden Raum verwandelt werden: Ein Kassettenraster wird bis auf die Höhe der obersten Brüstung herabgelassen …» (Philipp Bridel)
«Zunächst sollen die Bänke durch eine bewegliche Bestuhlung ersetzt werden. Dadurch wird der Raum zum Mehrzweckraum (Gottesdienst, Kirchliche Feier, Gemeindeabend, Konzert, Film, Diskussion etc.) … Hauptakzent im Mittelschiff bildet eine schwebende Lichtplastik. Sie steht im bewussten Gegensatz zur strengen Symmetrie der Raumarchitektur … Eine neue Farbgebung dürfte ein weiteres dazu beitragen, das Wohlbefinden des Besuchers zu steigern …» (Hans Brütsch)
«Abtrennung der Seitenschiffe, wodurch das Mittelschiff zu einem intimeren Raum auf einfachste Weise umgestaltet werden könnte … Schliessung der Kanzelapsis, Entfernung von Kanzel und Abendmahltisch und deren Ersatz durch mobile Möbel … (Eberhard Eidenbenz)»
Auch der Architekt Henne empfahl ein «Ersetzen der Kirchenbänke durch eine flottante Bestuhlung», die «Eliminierung der Kanzelpartie» und die «Abtrennung der Seitenschiffe unter den Emporen» sowie die «Gestaltung des Vorraums im Turmzimmer zu einer Hochzeits- und Taufkirche und für kleinere Veranstaltungen …»
Die eingereichten Vorschläge der Architekten wurden Richard Zürcher, Professor für Kunstgeschichte an der Universität Zürich zur Beurteilung vorgelegt. Und der äusserte sich skeptisch zu dem Projekt einer Umgestaltung des Kirchenraums: «In seiner edlen Würde und feierlichen Strenge hebt der Raum den Besucher über den Alltag hinaus und versetzt ihn in eine dem Gottesdienst angemessene Stimmung …» Und Prof. Zürcher folgert: «Der Unrast und Formlosigkeit unserer Zeit wird durch die Strenge und die gemessene Pracht der Formen begegnet. Der monumentale Charakter, der sich so stark von allen Entspannungs- und Auflockerungstendenzen unserer Zeit unterscheidet, lässt sich in diesem Raum im eigentlichen Sinne des Wortes erleben: nämlich als Mahnung an das Höhere und Ewige.»
Dieser Mahnung an das «Höhere und Ewige» verschloss sich die evang.-ref. Kirchgemeinde Fluntern nicht. Sie verzichtete auf das Projekt: «Umbau des Inneren der Grossen Kirche».
2015 waren noch 29% der Fluntermer Mitglieder der evang.-ref. Kirche Fluntern.
Martin Kreutzberg